Ricarda Huch - Der Fall Deruga
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Ricarda Huch
Der Fall Deruga
Saga
Der Fall Deruga Coverbild / Illustration: Shutterstock Copyright © 1917, 2020 Ricarda Huch und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726511277
1. Ebook-Auflage, 2020
Format: EPUB 2.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit Zustimmung von SAGA Egmont gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk
– a part of Egmont www.egmont.com
I
Wer ist der Anwalt, der mit Justizrat Fein hereingekommen ist?“ fragte eine Dame im Zuschauerraum ihren Mann, „und warum hat der Angeklagte zwei Anwälte? Fein ist allerdings wohl nur ein Schaustück.“
„Wenn der Betreffende ein Anwalt wäre, liebes Kind, würde er einen Talar tragen“, antwortete der Gefragte vorwurfsvoll. „Aber wer es ist, kann ich dir auch nicht sagen.“ Ein vor dem Ehepaar sitzender Herr drehte sich um und erklärte, der fragliche Herr sei der Angeklagte Dr. Deruga.
„Ist das möglich?“ rief die Dame lebhaft, „wissen Sie das bestimmt?“
Der alte Herr lachte vergnügt. „So bestimmt ich weiß, daß ich der Musikinstrumentenmacher Reichardt vom Katzentritt bin; der Herr Doktor wohnt nämlich bei mir.
Die Dame machte große Augen. „Läßt man denn einen Mörder frei herumlaufen?“ fragte sie. „Ich dachte, er wäre im Gefängnis. Ist es Ihnen nicht unheimlich, einen solchen Menschen in Ihrer Wohnung zu haben?“
„Ja, sehen Sie, gnädige Frau,“ sagte der alte Mann,“ der Herr Justizrat Fein hat ihn bei mir eingeführt, weil er mich schon lange kennt und seinen Klienten gut versorgt wissen wollte, und wenn der Herr Justizrat so viel Vertrauen in mich setzt, daß er seine Geigen und Flöten von mir reparieren und sein Töchterchen Unterricht im Zitherspielen bei mir nehmen läßt, so schickt es sich, daß ich auch wieder Vertrauen zu ihm habe. Und er hat mir seinen Klienten wärmstens empfohlen, der sich bis jetzt als ein lieber, gutartiger Mensch gezeigt hat, wenn auch etwas wunderlich.“ „Du darfst nicht vergessen, liebes Kind“, sagte der Ehemann, „daß ein Angeklagter noch kein Verurteilter ist.“
„Sehr richtig, sehr richtig“, sagte der Musikinstrumentenmacher und wollte eben allerlei merkwürdige Fälle von Justizirrtümern erzählen, als das Erscheinen der Geschworenen seine Aufmerksamkeit ablenkte.
Sie finde es doch ungehörig, flüsterte die junge Dame ihrem Manne zu, daß ein des Mordes Verdächtigter sich so frei bewegen dürfe, noch dazu einer, der so aussehe, als ob er zu jedem Verbrechen fähig wäre. „Man soll sich hüten, nach dem Äußeren zu urteilen, liebes Kind“, sagte der Ehemann. „Aber abgesehen davon würde ich auch diesem Menschen nicht über den Weg trauen. Es ist merkwürdig, wie leichtgläubig und wie ungeschickt im Auslegen von Physiognomien das Volk ist.“ Die meisten Zuschauer hatten denselben ungünstigen Eindruck von Dr. Deruga empfangen, der durch Nachlässigkeit in Kleidung und Haltung und mit seinen neugierig belustigten Blicken, die den Saal durchwanderten, der Majestät und Furchtbarkeit des Ortes zu spotten schien.
„Ich dachte, er hätte schwarzes, krauses Haar und Feueraugen“, bemerkte die junge Frau lächelnd gegen ihren Mann.
„Aber Kindchen“, entgegnete dieser, „wir haben doch auch nicht alle blaue Augen und blondes Haar.“
„Er stammt aus Oberitalien“, mischte sich ein Herr ein, „wo der germanische Einschlag sich bemerkbar macht.“ Ein anderer fügte hinzu, er vertrete doch einen durchaus italienischen Typus, nämlich den der verschlagenen, heimtückischen, rachsüchtigen Welschen, wie er seit dem frühen Mittelalter in der Vorstellung der Deutschen gelebt habe.
Unterdessen war ein Gerichtsdiener an den Angeklagten herangetreten und hatte ihn aufgefordert, sich auf der Anklagebank niederzulassen, was er folgsam tat, um sein Gespräch mit dem Justizrat Fein von dort aus fortzusetzen.
„Sehen Sie, da kommt der Jäger vor dem Herrn, Dr. Bernburger“, sagte der Justizrat, auf einen jungen Anwalt blickend, der eben den Zuschauerraum betrat. „Den hat die Baronin Truschkowitz auf Ihre Spuren geheftet, und eine gute Spürnase hat er, wie Sie sehen. Er ist Ihr gefährlichster Feind, der Staatsanwalt ist nur ein Popanz.“
Deruga betrachtete Dr. Bernburger, der angelegentlichst in seine Papiere vertieft schien.
„Ich glaube, er ist Ihnen ebenso gefährlich wie mir“. sagte er dann mit freundlichstem Spott, die große, bequeme Gestalt des Justizrats betrachtend. „Eigentlich gefiele mir der Bernburger ganz gut, wenn er nicht ein so gemeiner Charakter wäre.“
Der Justizrat wendete sich um und sagte, den Arm auf das Geländer stützend, das die Anklagebank abschloß: „Bringen Sie mich jetzt nicht zum Lachen, Sie verzweifelter Italiener! Wir haben alle Ursache, uns ein Beispiel an seinen Geiermanieren zu nehmen.“ „Er hat wirklich etwas von einem Raubvogel“, sagte Deruga, „ein feiner Kopf, so möchte ich aussehen. Sehe ich ihm nicht ähnlich?“
„Benehmen Sie sich ähnlich“, sagte der Justizrat, „und halten Sie Ihre Gedanken zusammen! Mensch, Ihre Sache ist nicht so sicher, wie Sie glauben. Der Bernburger hat zweifellos Material im Hinterhalt, mit dem er uns überrumpeln will; also passen Sie auf!“
„Aber ja“, sagte Deruga ein wenig ungeduldig. „Ihren Kopf behalten Sie auf alle Fälle, und an meinem braucht Ihnen nicht mehr zu liegen als mir.“
Jetzt flogen die Türen im Hintergrunde des Saales auf, und der Vorsitzende des Gerichts, Oberlandesgerichtsrat Dr. Zeunemann, trat ein, dem die beiden Beisitzer und der Staatsanwalt folgten. Der Luftzug hob den Talar des rasch Vorwärtsschreitenden, so daß seine stramme und stattliche Gestalt sichtbar wurde. Er grüßte mit einer Gebärde, die weder herablassend noch vertraulich war und eine angemessene Mischung von Ehrerbietung und Zuversicht einflößte. Seine Persönlichkeit erfüllte den bänglich feierlichen Raum mit einer gewissen Heiterkeit, insofern man die Empfindung bekam, es werde sich hier nichts ereignen, was nicht durchaus in der Ordnung wäre. Er rieb, nachdem er sich gesetzt hatte, seine schönen, breiten, weißen Hände leicht aneinander und ging dann an das Geschäft, indem er die Auswahl der Geschworenen besorgte. Es ging glatt und flott voran, jeder fühlte sich von einer wohltätigen Macht an seinen Platz geschoben. „Meine Herren Geschworenen“, begann er, „es handelt sich heute um einen etwas verwickelten Fall, dessen Vorgeschichte ich Ihnen kurz zusammenfassend vorführen will.
Am 2. Oktober starb hier in München, infolge eines Krebsleidens, wie man annahm, Frau Mingo Swieter, geschiedene Frau Deruga. Sie hatte nach ihrer vor siebzehn Jahren erfolgten Scheidung von Deruga ihren Mädchennamen wieder angenommen. In ihrem Testament, das Anfang November eröffnet wurde, hatte sie ihren geschiedenen Gatten, Dr. Deruga, zum alleinigen Erben ihres auf etwa vierhunderttausend Mark sich belaufenden Vermögens ernannt, mit Beiseitesetzung ihrer Verwandten, von denen die Gutsbesitzersgattin Baronin Truschkowitz, eine Kusine, die nächste war. Auf das Betreiben der Baronin Truschkowitz und auf gewisse zureichende Verdachtsgründe hin, die Ihnen bekannt sind, veranlaßte das Gericht die Exhumierung der Leiche, und es wurde festgestellt, daß Frau Swieter nicht infolge ihrer Krankheit, sondern eines furchtbaren Giftes, des Curare, gestorben war.
Als dem seit siebzehn Jahren in Prag ansässigen Dr. Deruga das Gerücht von einem gegen ihn im Umlauf befindlichen Verdacht zu Ohren kam, reiste er hierher, um zu erfahren, wer seine Verleumder, wie er sie nannte, wären, und sie zu verklagen. Es wurde ihm mitgeteilt, daß das Gericht bereits den Beschluß gefaßt habe, die Anklage auf Mord gegen ihn zu erheben, und daß er seine Anklage bis zur Beendigung des Prozesses verschieben müsse. Unter diesen besonderen Umständen, da der Angeklagte sich gewissermaßen selbst gestellt hatte, wurde angenommen, daß Fluchtverdacht nicht vorliege, und von einer Verhaftung einstweilen abgesehen. Verdächtig machte den Angeklagten von vornherein, daß er sich in bedeutenden finanziellen Schwierigkeiten befand. Ferner belastete ihn die Tatsache, daß er am Abend des 1. Oktober vergangenen Jahres eine Fahrkarte nach München löste und erst am Nachmittag des 3. Oktober nach Prag in seine Wohnung zurückkehrte. Einen genügenden Alibinachweis vermochte der Angeklagte nicht zu erbringen.
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