»Bereue nicht, was du getan hast, bereue, was du nicht getan hast.« Wie oft hatte sie seit Michaels Tod an seinen letzten Satz gedacht, mit dem er aus ihrer Eigentumswohnung in Aarau gestürmt war. Bereute er, etwas nicht getan zu haben? Oder galt sein letzter Satz etwa ihr? Bereute sie, was sie getan hatte? Hatte sie etwas verpasst, was sie hätte tun sollen?
Sie ging parallel zur Straße durch den Wald. Als ihr bewusst wurde, wie vorsichtig sie auftrat, als dürfte sie keine Geräusche machen, fing sie an, ungestüm auf den Boden zu stampfen und in die Hände zu klatschen. Sie nahm einen Ast in die Hand und zerbrach ihn. Das trockene Knallen klang wie der Schuss einer Spielzeugpistole. Bald standen die Bäume so dicht, dass kein Durchkommen mehr war, und sie musste auf die Straße zurückgehen. Als sie die Zufahrt zum Strand erreichte, blieb sie stehen und spähte durch die Bäume auf die Wiese, die in den Strand überging: kein Pick-up. Die Tür des Schuppens, in dem die Shofestalls letzten Sommer ein Hochzeitsfest gefeiert hatten, war geschlossen. Sie ging die Zufahrt hinunter; bevor sie auf den Sand trat, schlüpfte sie aus den Turnschuhen. Der Strand war leer, sie war allein.
Die Schönheit der Bucht verschlug ihr jedes Mal den Atem: Eingefasst von Felsen wie von schützenden Armen, beschrieb der Strand eine perfekte Sichel aus ockerfarbenem Sand. Corinna legte sich lieber auf die rechte Felsschulter als an den Strand, weil sie von dort weit übers Meer sehen konnte. Links lag die Brücke, die Spruce Head Island mit dem Festland verband, geradeaus sah man über die gegenüberliegende Waterman Beach Road Richtung Norden, rechts auf den offenen Atlantik mit den Inseln Vinalhaven und North Haven. Corinna sprang barfuß auf die Felsen, nahm ihr Badetuch aus der Tasche, die sie in Round Pond bei einer Frau aus Durban gekauft hatte, die achtzig Jahre alt und wie ein Hippiemädchen gekleidet war, und breitete es auf dem Stein aus. Auf der Sandbank, die zwanzig Meter vor der Küste aus dem Wasser ragte, hockten Dutzende von Möwen, die sie misstrauisch beobachteten, jedoch sitzen blieben. Der Himmel war beinahe wolkenlos, bereit für den ersten Kreidestrich, ein erstes Wort auf einer geputzten Wandtafel.
Die Sonne brannte heiß auf den Felsen, weit draußen war ein Fischer, der allein auf seinem Boot arbeitete, damit beschäftigt, von Boje zu Boje zu fahren, die die Position seiner Hummerkörbe markierten. Der Wind trug die Musik, die er hörte, in Wellen ans Festland. Corinna ließ sich auf den Rücken sinken, schloss die Augen und hörte Fetzen des Bob-Seger-Songs »Turn The Page«. Schon als Teenager hatte Michael Seger geliebt und viele seiner Songtexte auswendig gekannt. So war er mit siebzehn zu seinem Spitznamen Bob gekommen. Manchmal hatte er mit der schwarzen Gibson Les Paul, die sie ihm zum 50. Geburtstag geschenkt hatte, zu den Songs gespielt und dabei das schüchterne und gleichzeitig selbstsichere Gesicht gemacht, in das sie sich viele Jahre zuvor verliebt hatte. Ihr gefiel Segers Musik erst, seit sie auf einem Konzert seiner Silver Bullet Band in Dortmund gewesen waren. Als sie nach den drei Nächten im Rockland Harbor Hotel in ihr Cottage zurückgekehrt war, hatte sie seine LPs Beautiful Loser , Against The Wind , The Distance und Live Bullet Tag und Nacht gehört und vor Einsamkeit und Verzweiflung geheult. Dann hatte sie die Langspielplatten auf den Dachstock über der Garage getragen und sich geschworen, sie nie mehr anzurühren.
Der Motor des Hummerbootes wurde lauter, die Rockmusik ebenso, aber Corinna blieb liegen und lauschte dem Flügelklatschen der Möwen, die sich in die Luft erhoben und flüchteten. Als das Motorengeräusch verklungen war und die Wellen, die das Boot verursachte, nicht länger gegen die Küste schlugen, stand sie auf. Sie würde von der Steinschulter auf die angrenzenden Felsen klettern und um die Landzunge herum bis zu der Stelle gehen, von der man direkt ins tiefe Wasser steigen konnte. Sie zog ihr Sommerkleid aus und schlüpfte in die Badeschuhe. Michael hatte sich geweigert, das Paar anzuziehen, das sie für ihn bei Walmart gekauft hatte. Lieber hatte er sich die Fußsohlen an den Steinen zerschnitten und war ihr mit rudernden Armen staksend wie ein Storch ins Wasser gefolgt. Ihr Bikini war ein Geschenk von ihm, sie hatten im Waterfront in Camden nachmittags eine Flasche Weißwein und frische Muscheln genossen; auf dem Rückweg zum Auto war ihm der Bikini in einem Schaufenster aufgefallen.
Die Sonne blendete Corinna, und sie ging vorsichtig um die Landzunge herum auf die Südseite der Insel. Nun spürte sie den Wind. Ein dicker Ast, bestimmt bei einem der Frühlingsstürme vom Stamm einer Föhre abgebrochen, knarzte, ein abgestorbener Zweig schien ihr zuzuwinken. Das Meerwasser, das sich in einer wannenförmigen Mulde angestaut hatte, war so warm, dass sie sich hineinstellte und, geblendet vom Licht, auf die weiße Fläche des Meeres hinausschaute. Das Wasser reichte ihr bis über die Knöchel; sie strich mit den Zehen über den fein geschmirgelten Stein, kratzte an den winzigen schwarzen Muscheln, die sich daran festgesaugt hatten. Schließlich hatten sich ihre Augen an die Helligkeit gewöhnt. Der Kondensstreifen eines Flugzeugs zerschnitt den Himmel, bestimmt unterwegs nach Europa.
Da sah sie den Mann.
Er trieb rücklings dicht am Ufer im Meer.
Corinna stieg aus der Mulde und trat so nahe wie möglich an den Mann heran. Er war tot. War es wichtig, eigene Grenzen zu überschreiten oder reichte es, sie zu erkennen und zu akzeptieren? Sie versuchte verzweifelt, so ruhig wie möglich zu atmen und sich darauf zu konzentrieren, was sie wahrnahm, und sich wichtige Details einzuprägen, statt zuzulassen, dass sich die Bilder des Vierfachmordes davorschoben, die von der Hitze des Feuers ausgelöschten Gesichtszüge, die verkohlten, in menschenunmögliche Verrenkungen gezwungenen Körper. Der schwere Körper des Mannes, nackt bis auf weiße Socken und hellbraune Shorts, war nicht aufgedunsen, er lag demnach noch nicht lange im Wasser. Natürlich fiel Corinna ihr Traum ein, der sie aus dem Schlaf geschreckt hatte: Michael, der tot im Wasser lag und sie anstarrte. War die Angst vor dem Tod ein Motor, der einen antrieb? Wie würde man leben, wenn das Leben kein Ende kennen würde? Sorgloser? Freier?
Jemand hatte dem Mann die Greifbacken einer Hummerzange durch die Augenhöhlen in den Kopf und damit ins Hirn getrieben. War er daran gestorben? Eine Blutfahne trieb um seinen Hinterkopf, ein hauchzarter verwehter roter Seidenschal. Die Zange saß ihm wie ein Insekt mitten im Gesicht, eine silberne Spinne.
Der Tote war groß und kräftig.
Der Tote war braun gebrannt.
Auf seinen rechten Oberarm war eine stilisierte Sonne mit gewundenen Strahlen tätowiert, darunter ein Wort, das sie nicht lesen konnte.
Corinna kannte den Toten.
Norman Dunbar.
Mit seiner Frau Tracy war sie befreundet.
Norman Dunbar gehörte das größte Anwesen auf Spruce Head Island.
Im Keag war die Zeit stehen geblieben; der Grocery Store sah aus wie der Laden im Dorf von Corinnas Großeltern im Appenzell Anfang der siebziger Jahre. Im hinteren Teil des Raumes standen eine Handvoll Tische, im vorderen Bereich befanden sich die Theke mit Kasse, die offene Küche, Kühlregale sowie Gestelle mit Lebensmitteln, Haushaltsartikeln und einem verblüffend guten Weinsortiment. Touristen verirrten sich nur im Sommer ins Keag ; Corinna war von den Einheimischen lange behandelt worden, als wäre sie unsichtbar. Aber mittlerweile wurde sie selbst von den Lobsterfischern begrüßt, und Linda öffnete die Vitrine mit den Donuts, sobald sie zur Tür hereinkam.
Corinna setzte sich mit einer Tasse Kaffee und einem Zimtdonut an einen der Fenstertische und stellte erstaunt fest, dass ihre Hände zitterten. Die Angler standen wie üblich an der Stelle, an der der Weskeag River in die Bucht floss, über sich Möwen, die geduldig im Wind segelten und versuchten, den Männern die Fische von den Haken zu schnappen.
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