Sie hatte in Boston in einem schicken Hotel im Financial District übernachtet, fünf Gehminuten von der South Station entfernt, wo sie am nächsten Mittag in einen Bus der Concord Lines gestiegen war. »Wollen Sie wissen, was das Beste an New Hampshire ist?« Der Mann, der sie das gefragt hatte, hatte zwei Reihen schräg hinter ihr gesessen. »Dass es hier an der Küste nur zehn Meilen breit ist!«
Kurz hinter Portsmouth waren sie über die gewaltige Piscataqua Bridge gefahren, Michaels Lieblingsbrücke. Die ersten zwei Stunden bis Portland waren wie im Flug vergangen, dafür hatte der Rest der Reise kein Ende nehmen wollen. Als Corinna nach beinahe fünf Stunden endlich am Fähr- und Busterminal in Rockland aus dem Bus gestiegen war, war sie erschöpfter als nach dem Transatlantikflug. Der Taxifahrer, der sie nach Spruce Head Island gebracht hatte, hatte Michael und sie schon einmal gefahren, als sie im Primo schlecht und teuer Italienisch gegessen und zu viel getrunken hatten.
Dass Corinna es nicht schaffte, allein im Cottage zu bleiben, noch nicht, hatte sie gewusst, sobald sie die Tür hinter sich ins Schloss gezogen hatte. Sie hatte den Schlüssel für den Dodge aus der obersten Schublade der Kommode im Flur genommen und war auf der Stelle nach Rockland zurückgefahren. Sie war drei Nächte im Rockland Harbor Hotel geblieben, in einem Zimmer in der dritten Etage, von dessen Balkon sie über den Fährterminal mit dem Glockentürmchen und die tanzenden Masten der Segelschiffe hinweg auf den fast eine Meile langen breakwater sah. Die Befestigungsmauer aus Steinquadern schützte Rocklands Hafen. Sie hatte viele Stunden auf diesem Balkon verbracht, den Fähren nach North Haven und Vinalhaven nachgeschaut und versucht, damit klarzukommen, dass sie nie wieder mit ihrem Mann hier in Maine sein würde. Michael war tot.
Sie hatten das Cottage vor vier Jahren als Ferienhaus gekauft, es aber bereits im zweiten Jahr um einen kleinen Anbau mit Gästezimmer samt Bad erweitern lassen und sich versprochen, sich früher pensionieren zu lassen, um das ganze Jahr auf Spruce Head Island leben zu können. Und dann war Michael ums Leben gekommen.
Die ersten Nächte nach der Rückkehr aus dem Hotel hatte Corinna auf dem Sofa im Wohnzimmer und im Gästezimmer geschlafen, dann hatte sie es endlich geschafft, in ihr gemeinsames Schlafzimmer im oberen Stock zu ziehen. In den ersten Tagen war sie wie ein Geist von Zimmer zu Zimmer gewandelt, hatte sich immer wieder um die eigene Achse gedreht und tief eingeatmet, als sei sie einem Duft auf der Spur, für den sie bislang nicht die Nase gehabt hatte. Michaels Zimmer hatte sie nur ein einziges Mal betreten: Die Vorhänge waren geschlossen, und sie zog die Tür hinter sich zu. Weshalb hatte ich nicht geweint, fragte sie sich, habe ich nicht begriffen, was geschehen ist? Das hier war das Zimmer ihres toten Mannes, sein Stuhl, sein Tisch, sein Bett, auf dem er sich mittags manchmal ausgeruht hatte. Auf dem Fenstersims lagen mehrere Vogelfedern und eine Muschel. Das Badetuch, das über der Stuhllehne hing, war steif vom Salz des Meeres; sie legte es sich um die Schultern und bemerkte das Gehäuse eines Apfels, das neben dem Laptop auf dem Tisch lag. Sie nahm es in die Hand und schnupperte daran. Als sie begriff, dass das braun verfärbte und vertrocknete Fruchtfleisch den Abdruck von Michaels Zähnen zeigte, ließ sie es zu Boden fallen, warf das Badetuch ab, zog sich aus, stieg nackt in Michaels Bett und verkroch sich unter seiner Decke. Der Schmerz in ihr platzte wie eine überreife Frucht. Das Gewicht, das aus ihrer Brust nach unten rutschte, zwang sie, die Knie anzuziehen.
Würde es ihr helfen, wenn sie an Gott glauben und mit gutem Gewissen beten könnte? Ein Mensch, der trauerte, machte anderen Menschen Angst, das wusste sie. Trauer löste oft kein Mitgefühl aus, sondern Furcht oder gar Abscheu. Sie hatte sich vor der Trauer ihrer Mutter, die die lebenslustige, offene Frau nach dem Krebstod ihres Mannes in eine deprimierte, in sich gekehrte Greisin verwandelt hatte, ebenfalls gefürchtet wie vor einer ansteckenden Krankheit. Sie hatte jeden in den Abgrund gerissen, der den Fehler beging, sich in die Nähe ihrer Mutter zu wagen.
Corinna war immer noch leicht schwindlig, das Summen in ihrem Kopf dagegen war verstummt. Auf einmal hatte sie das unangenehme Gefühl, sie würde beobachtet, und schaute sich vorsichtig um: David Byrd stand im Schatten, den das Dach seines Hauses auf sein Deck warf, und hatte den Feldstecher auf sie gerichtet. Als er begriff, dass sie ihn entdeckt hatte, ließ er das Glas sofort sinken und verschwand im Haus.
Corinna war längst am Teich vor David Byrds Haus vorbeigegangen, als sich die Frösche doch noch meldeten: Ihr kehliges, metallenes Quaken riss sie manchmal mitten in der Nacht aus dem Schlaf. Wie nur konnten derart kleine Tiere einen solchen Lärm veranstalten? Die Luft über dem Asphalt flirrte, als wäre Benzin verschüttet worden, Wölkchen trieben Richtung Festland. Die Rockledge Road führte in eine Senke, aus der man nicht aufs Meer sehen konnte, in der die Luft jedoch deutlich wärmer war. Seit Corinna allein war, ging sie schneller; Michael hatte ihr immer vorgeworfen, sie gehe provozierend langsam und zwinge ihm ihr Flaniertempo auf. Seit er tot war, ging sie so schnell wie möglich, als wäre es lebenswichtig, keine Sekunde zu vertrödeln. Dabei hatte sie keine Ahnung, was sie mit der gewonnenen Zeit anfangen sollte.
Der Hund, der ihr auf der Straße entgegentrottete, gehörte der älteren Frau, die jedes Mal verschämt grüßte, wenn sie sich begegneten, aber nie stehen blieb, um sich mit ihr zu unterhalten. Sie zog das rechte Bein nach, ihr rechter Arm wirkte leblos; offenbar hatte sie einen Schlaganfall erlitten. Corinna strich dem braunen Labrador über den Kopf, als sie an ihm vorbeiging; die Frau, die einen Sonnenhut trug, nickte und senkte den Blick.
Corinna blieb auf der Rockledge Road, die in den Fichtenwald führte. Die Sonne, die durch die Baumkronen fiel, stellte Lichtsäulen zwischen die Stämme, die dem Wald eine geheimnisvolle Tiefe gaben. Vor ein paar Tagen war sie fast auf eine grüne garden snake getreten, die sich aus dem Unterholz geschlängelt hatte, darum ging sie in der Mitte der Kiesstraße, die mit Schlaglöchern durchsetzt war. Sie roch das Meer, der Himmel hatte die Farbe von nassem Zement angenommen. Sie ging manchmal in der Privatbucht der Familie Shofestall schwimmen; das kühle Wasser des Atlantiks vertrieb den Xanax-Schwindel und gab ihr die Gewissheit, am Leben zu sein. Dank Michaels Offenheit und Charme hatte Judy Shofestall ihnen bereits in ihrem ersten Sommer auf der Insel erlaubt, was eigentlich den Einheimischen vorbehalten war: Sie durften in der Bucht mit dem geschützten Sandstrand sein, wann immer sie wollten, es sei denn, die Shofestalls badeten selbst.
Nach etwa dreihundert Metern kam Corinna an dem Autowrack vorbei, das die Zufahrt zu einem Haus markierte, das auf einer Lichtung stand und offensichtlich niemals fertig wurde. Dieses Jahr war ein Teil des Daches abgedeckt und mit Plastikbahnen geschützt, der neue Anbau war nicht verschalt, und die Isolationsmatten lagen frei. Das Chaos auf dem Grundstück schien beständig größer zu werden. Abfall türmte sich an immer neuen Stellen auf, ausrangierte Maschinen- oder Motorenteile wuchsen wie Geschwüre zwischen den Bäumen. Corinna wusste nicht, wer in dem abgelegenen Haus lebte, sah in ihrer Vorstellung aber einen mageren Mann vor sich, der mit seinen Hunden redete und eine Brille mit verschmierten Gläsern trug. Im Erdgeschoss des Hauses stand ein Fenster offen, jemand übte auf einer Gitarre wieder und wieder den gleichen Griff.
Das Tor zum Grundstück der Shofestallers stand offen, was jedoch nicht bedeuten musste, dass sie tatsächlich am Strand waren. Corinna würde bis zur Stelle weitergehen, an der eine Zufahrt von der Rockledge Road zur Bucht hinunterführte. Von dort konnte sie sehen, ob der Pick-up der Shofestalls am Strand parkte: Sie fuhren immer mit dem Auto an den Strand, dabei stand ihr Haus keine halbe Meile entfernt. Plötzlich hatte Corinna die übermächtige Ahnung, etwas stimmte nicht. Sie begriff nicht sofort, was sie stutzig machte: Sie war nicht allein. Sie schaute sich um, konnte aber niemanden entdecken und ging nach kurzem Zögern ein Stück in den Wald hinein. Der Erdboden war trocken, federte aber dennoch nach. Zwischen Bäumen aufgespannte Spinnennetze glitzerten, die Kronen der Fichten wogten hin und her, obwohl Corinna nicht den Hauch eines Windes spürte. Der Wald war dicht und finster und erinnerte sie in nichts an die hellen und lichten Mischwälder ihrer Kindheit in der Schweiz. Sie blieb stehen und hielt den Atem an. Jetzt hörte sie deutlich, dass sich in ihrer Nähe ein Mensch oder ein Tier durch den Wald bewegte. Zweige knackten, Äste brachen. Sie kniff die Augen zusammen und schaute sich angestrengt um, sah aber niemanden, nicht einmal einen Schatten. Die Geräusche wurden leiser und entfernten sich in westlicher Richtung.
Читать дальше