In dem Maße, wie der Verfasser die »weltkonstitutive« Funktion der historischen Praxis hervorhob, hoffte er dem Selbstverständnis von Marx gerecht zu werden. Letzteres freilich hat sich unterdessen als wenig konsistent erwiesen. Das gilt zumal für den »praktischen« Wirklichkeits-Bezug des Marxschen Denkens, der sich in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten anders darstellt als in der Kritik des Gothaer Programms, wo er sich verfestigt zum historischen Apriori schrankenloser Aneignung der Natur.
Wie schon im Postscriptum 1971 ist auch hier an Feuerbach wenigstens zu erinnern, über den Marx und Engels allzu rasch hinweggegangen sind. 60Was sie als Mangel seines »anschauende[n] Materialismus« 61beanstandeten: daß er das Sein der Dinge nicht antastet, wird heute als eine Möglichkeit unverstellten Natur-Zugangs wiederentdeckt. Feuerbach konfrontiert im Wesen des Christentums das neuzeitliche Bewußtsein mit der großartigen Naivität der Griechen, deren Verhältnis zur Welt gleichzeitig theoretisch und ästhetisch ist; »denn die theoretische Anschauung ist ursprünglich die ästhetische, die Ästhetik die prima philosophia« 62. Für die Alten ist »der Begriff Welt der Begriff des Kosmos, der Herrlichkeit, der Göttlichkeit selbst« 63. Mensch und Welt befinden sich in Harmonie. »Wem die Natur«, so Feuerbach, »ein schönes Objekt ist, dem erscheint sie als Zweck ihrer selbst, für den hat sie den Grund ihres Daseins in sich«; er setzt als »Grund der Natur« eine »in seiner Anschauung sich betätigende Kraft« 64. Freien Spielraum gewährt der Mensch dieser Stufe allein seiner Phantasie. »Er läßt hier«, betont Feuerbach, »indem er sich befriedigt, zugleich die Natur in Frieden gewähren und bestehen, indem er seine ... poetischen Kosmogonien nur aus natürlichen Materialien zusammensetzt.« 65Sobald dagegen, wie in der Moderne, der Mensch die Welt vom »praktischen Standpunkt« aus betrachtet, gar diesen zum theoretischen erhebt, »da ist er entzweit mit der Natur, da macht er die Natur zur untertänigsten Dienerin seines selbstischen Interesses, seines praktischen Egoismus« 66.
Es ist klar, daß Feuerbachs Rekurs auf das vortechnisch-mythische Weltbild der Griechen kein bloßer Reflex romantischer Sehnsüchte ist. Feuerbach erinnert an die schon zu seiner Zeit vielfach verschüttete Möglichkeit, Natur nicht nur als Objekt der Wissenschaft oder Rohstoff zu erfahren, sondern »ästhetisch« im sinnlich-rezeptiven wie künstlerischen Sinn. Aneignende Praxis soll den Dingen zu Ausdruck und Sprache verhelfen. Dazu aber bedarf es eines philosophischen Ansatzes, der über die mit dem Subjekt-Objekt-Schema des Arbeits und Erkenntnisprozesses gesetzte Trennung von Mensch und Natur hinaus ist. Auszugehen wäre vom Naturganzen (und der Naturentsprungenheit des Menschen). Eben darin bestand nach Marx der »aufrichtige Jugendgedanke« 67Schellings. Im Ersten Entwurf eines Systems der Naturphilosophie von 1799 wird der Natur »unbedingte Realität« zuerkannt: »Autonomie« und »Autarkie«. Natur, sagt Schelling, ist »ein aus sich selbst organisirtes und sich selbst organisirendes Ganzes« 68.
Heuristisch brauchbar ist auch Engels’ These von der Natur als »Gesamtzusammenhang« 69, als in sich reich gegliedertes System universeller Wechselwirkungen. Innerhalb dieses in originärer Selbstgegebenheit sich darbietenden Systems bildet der durch materielle Produktion vermittelte Austausch von Mensch und Natur nur eine von zahllosen Interaktionen. Dadurch wird der bisherige, an menschlicher Praxis und Geschichte orientierte Denkansatz nicht hinfällig, aber relativiert. Der historisch-dialektische erweitert sich zum »ökologischen Materialismus«. 70Dieser begreift, daß die Dialektik von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen umschlossen und getragen wird von einer elementarischen Dialektik von Erde und Mensch, den ungeschichtlichen Voraussetzungen aller Geschichte. Hierin bewährt sich der Gedanke, daß die Welt eine materielle Einheit bildet. – Viel wäre bereits gewonnen, wenn sich die Menschheit, unter Verzicht auf schrankenloses Wachstum, darauf einrichten könnte, künftig in besserem Einklang mit dem System der Natur zu leben.
Frankfurt am Main, Anfang April 1993 Alfred Schmidt
Anmerkungen zum Vorwort des Verfassers
zur französischen Ausgabe
1Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Band I.3, Frankfurt am Main 1980, S. 1232.
2Cf. hierzu Iring Fetscher, Überlebensbedingungen der Menschheit. Ist der Fortschritt noch zu retten?, München 21985, S. 110.
3Cf. Alfred Schmidt, Emanzipatorische Sinnlichkeit. Ludwig Feuerbachs anthropologischer Materialismus, München 31988, S. 32ff.
4Engels an Marx, Brief vom 15. Dezember 1882, in: Marx/Engels, Ausgewählte Briefe, Berlin 1953, S. 425 (Hervorhebung von Engels).
5Marx, Die künftigen Ergebnisse der britischen Herrschaft in Indien, »New York Daily Tribüne«, Nr. 3840 vom 8. August 1853, in: Ausgewählte Schriften, Band I, Berlin 1964, S. 330.
6Manifest der Kommunistischen Partei, in: ibid., S. 30f.
7Ibid.
8Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie (Rohentwurf), Berlin 1953, S. 313.
9Ibid.
10Marx, Das Kapital, Band III, Berlin 1953, S. 873.
11Cf. Fetscher, l.c., S. 120f.
12Marx, Grundrisse, l.c., S. 387.
13Ibid.
14Ibid., S. 387; 388.
15Cf. ibid., S. 79.
16Ibid.
17Ibid.
18Ibid.
19Ibid.
20Ibid., S. 79f.
21Ibid., S. 231; cf. auch S. 415. – Cf. zur historischen Notwendigkeit des »Hindurchgangs« der Menschheit durch die kapitalistische Produktionsweise auch Fetscher, l.c., S. 115ff.
22Marx, Grundrisse, l.c., S. 80.
23Ibid., S. 231.
24Marx/Engels, Werke, Band I, Berlin 1957, S. 375.
25Marx, Das Kapital, Band III, l.c., S. 289.
26Marx, Das Kapital, Band I, Berlin 1955, S. 531 (Hervorhebungen vom Verfasser).
27Marx bezieht sich in diesem Zusammenhang (cf. ibid., S. 532) auf Justus von Liebig, dessen Buch Die Chemie in ihrer Anwendung auf Agrikultur und Physiologie (71862) er dafür lobt, die »negative Seite der modernen Agrikultur ... vom Naturwissenschaftlichen Standpunkt« aus entwickelt zu haben. Cf. dazu auch Fetscher, l.c., S. 137.
28Marx, Das Kapital, Band I, l.c., S. 531f. (Hervorhebungen von Marx). – Cf. hierzu auch die Theorien über den Mehrwert, wo es lapidar heißt: »Antizipation der Zukunft – wirkliche Antizipation – findet überhaupt in der Produktion des Reichtums nur statt mit Bezug auf den Arbeiter und die Erde. Bei beiden kann durch vorzeitige Überanstrengung und Erschöpfung, durch Störung des Gleichgewichts zwischen Ausgabe und Einnahme, die Zukunft realiter antizipiert und verwüstet werden. Bei beiden geschieht es in der kapitalistischen Produktion« (in: Marx/Engels, Werke, Band 26.3, Berlin 1968, S. 303).
29Marx, Das Kapital, Band I, l.c., S. 532.
30Marx/Engels, Werke, Band 26.3, l.c., S. 295.
31Marx, Brief an Engels vom 25. März 1868, in: Marx/Engels, Werke, Band 32, Berlin 1965, S. 52f. (Hervorhebungen von Marx).
32Marx, Das Kapital, Band II, Berlin 1955, S. 241. – Marx kommentiert hier Friedrich Kirchhofs Handbuch der landwirtschaftlichen Betriebslehre, Dessau 1852, S. 58.
33Marx, Das Kapital, Band II, l.c., S. 241.
34Marx/Engels, Werke, Band 20, Berlin 1968, S. 275f.
35Ibid., S. 276.
36Ibid.
37Ibid.
38Ibid., S. 455.
39Ibid., S. 454.
40Ibid., S. 452f; cf. hierzu auch S. 455.
41Ibid., cf. S. 277.
42Ibid., S. 453.
43Ibid., S. 454. – Hinsichtlich der von Engels erwogenen Möglichkeit auch die Naturbeherrschung künftig lückenlos zu beherrschen, haben spätere Marxisten wie Max Adler sich mit Recht eher skeptisch geäußert. Adler warnt davor, »in die übliche und gedankenlose Verherrlichung des technischen Fortschritts zu verfallen, wie sie die bürgerliche Welt zu ihrer Berühmung und Rechtfertigung liebt«. Es bleibt zu beachten, »daß eine Möglichkeit sozusagen für den Einbruch der unbeherrschten Natur in das System der geregelten und beabsichtigten Naturwirkungen nicht nur immer bestehen bleibt, sondern, wo er gelingt, gerade infolge der größeren, aber momentan durchbrochenen Naturbeherrschung auch bedeutsam größere, ja manchesmal sogar katastrophale Wirkungen hervorruft« (Natur und Gesellschaft. Soziologie des Marxismus 2, Wien 1964, S. 81; 83).
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