1 ...8 9 10 12 13 14 ...28 Er klopfte wieder. »Tressa?«
Er hörte, wie sich Schritte der Tür näherten und ein Riegel zurückgeschoben wurde. Die Tür öffnete sich einen Spaltbreit. Hinter einer Sicherheitskette tauchte der Kopf von Tressa Walker auf, die ihn mit großen Augen anstarrte. Sie sah misstrauisch aus. Eine Strähne ihrer lockigen Haare fiel ihr ins Gesicht und verdeckte ihr linkes Auge. Als sie ihn erkannte, legte sich ihre Stirn in Falten und sie sah aus wie jemand, der gezwungen war, sich auf zu viele Dinge auf einmal zu konzentrieren.
»Äh …«
»Bist du allein?«, fragte er.
Sie kaute an ihrer Unterlippe, nickte, schien die Situation zu durchdenken. Schließlich öffnete sie die Kette und ließ ihn herein.
»Ganz schönes Chaos hier«, sagte sie.
Die Wohnung war klein und zugig. Es gab nur ein größeres Wohnzimmer mit einer Kochnische sowie einen kurzen Korridor, der zu zwei Räumen führte, bei denen es sich wahrscheinlich um ein Bad und ein Schlafzimmer handelte. Bis auf wenige Ausnahmen war nichts dekoriert oder wohnlich eingerichtet. Das Wohnzimmer war gefüllt mit einer Ansammlung weggeworfener Dinge : zersplitterte Möbel und zerfetzte Sessel, aus denen sich die Federn wie Schlangen aus einer Grube emporwanden; Gartenlaternen aus Krepp, zusammengebunden und an der Decke befestigt; nicht zueinander passende Keramikvasen; staubige Schallplatten, die ohne Hülle auf dem Teppich ausgebreitet waren; winzige Bilder in Holzrahmen an den Wänden, mit so kleinen Fotos, dass es unmöglich war, die Gesichter zu erkennen. Trotz der zahlreichen merkwürdigen Artefakte, die im Raum verteilt waren – allen voran ein ausgestopfter Leguan, der auf einer alten Zenith-Tischuhr saß – waren es die gerahmten Bilder, die die meiste Aufmerksamkeit auf sich zogen. Es dauerte eine Weile, bis John begriff, woran das lag: Auf ihre Art waren diese Bilder Tressa Walkers Versuch, etwas Menschliches, Zivilisiertes in ihr Leben zu bringen. Im Gegensatz zu den Keramikvasen, den Gartenlaternen und dem ausgestopften Leguan waren diese Bilder geplant aufgehängt worden, und sie waren menschlich . Auch er hatte zu Hause Bilder an den Wänden.
»Erwartest du jemanden?«, fragte er.
Sie schüttelte den Kopf und rieb sich den linken Arm, bevor sie in die Küchenecke schlüpfte und so tat, als sei sie beschäftigt. Durch das kleine Fenster über der Spüle kam graues Tageslicht herein und ergoss sich als stumpfes Halbdunkel über die schmutzige Formica-Arbeitsplatte. Ein leichter Nieselregen pochte gegen die Scheibe.
»Nein.«
»Deveneau ist nicht da?« Er blickte den Flur entlang und versuchte, einen Blick ins Schlafzimmer zu werfen. Die Tür war geschlossen.
»Er ist rausgegangen. Warum bist du hier?«
In der Mitte des Zimmers stand ein Babybett, halb verborgen unter einem Berg ungewaschener Wäsche. Wie die Bilder an der Wand gab auch das Bettchen dem Raum etwas seltsam Menschliches, wenn auch mehr aus Notwendigkeit denn aus bewusstem Handeln.
»Ist das Baby da?«
»Schläft im anderen Zimmer. Wir sollten also leise sein.« Sie ging ans andere Ende des Raumes und sammelte etwas Wäsche auf, um auf dem Sofa Platz zu machen. »Du kannst dich hinsetzen.«
»Schon gut.«
»Was ist los? Warum bist du gekommen?«
»Was ist mit deinem Arm passiert?«
Sie blickte an ihrem Arm herab, als ob der unübersehbare, zwischen lila und braun schimmernde blaue Fleck ihr erst jetzt aufgefallen wäre. Der blaue Fleck kam nicht von den Drogen – sie hatte genug davon zum Vergleich – sondern sah eher aus wie die Art von Bluterguss, die durch starke, grob zupackende Finger verursacht wurden. Die Finger einer anderen Person.
»Es ist nichts«, sagte sie. Dann wechselte sie das Thema: »Ich sollte mich für gestern Abend bei dir bedanken. Dieser Kerl wollte mich umbringen. Ich dachte schon, ich wäre …« Sie zuckte mit den Schultern, als ob das, was in der letzten Nacht geschehen war, plötzlich keine große Sache mehr wäre. »Und dann Deveneau – er hat dich wie verrückt gelobt dafür, was du getan hast, weißt du? Wie du diesen Typen erschossen hast, um mein Leben zu retten, und wie du uns dann geholfen hast, abzuhauen.«
»Ich habe niemandem geholfen, abzuhauen«, sagte er. »Ich bin euch beiden nur gefolgt. Ich bin kein großer Freund davon, mir ein Loch in den Kopf schießen zu lassen.«
»Gut, aber du hast immer noch diesen Typen umgebracht. Hättest du das nicht getan, wäre ich jetzt tot. Ich verdanke dir also mein Leben. Dafür danke ich dir.«
Verlegen trat er von einem Fuß auf den anderen. »Ich bin gekommen, um dir zu sagen, dass wir die Ermittlungen einstellen.« Es gab keine Notwendigkeit, ihr die Situation zu erklären, keine Notwendigkeit, ins Detail zu gehen. Solche Dinge würden sie ohnehin nicht interessieren. Sie berührten sie nicht, spielten keine Rolle und hatten nichts mit ihr an diesem Ort und in diesem Moment zu tun.
»Was ist mit mir?«
»Ich lasse dich laufen«, sagte er. »Dich und Deveneau.«
Es brauchte etliche Momente, bevor sie die richtigen Worte fand, überhaupt irgendwelche Worte. »Das war es dann?« Sie schien gleichzeitig erleichtert und enttäuscht zu sein, und unsicher, was das alles wirklich bedeutete. Geistesabwesend betastete sie den blauen Flecken auf ihrem Arm, dessen Farbe an die eines frühen Sonnenuntergangs erinnerte. »Du lässt mich einfach so laufen?«
»Du kannst Deveneau sagen, dass mir die Situation zu abenteuerlich geworden ist, nach dem, was im Klub passiert ist, und dass ich nicht mehr daran interessiert bin, Geschäfte zu machen.«
»Einfach so?« Bevor sie zugestimmt hatte, mit dem Secret Service zusammenzuarbeiten, hatte Tressa Walker eine lange Zeit im Gefängnis gedroht. Und sie hatten ihr klargemacht, dass der Kinderfürsorgedienst ihr das Baby wegnehmen würde, wenn sie nicht kooperierte. Ihre Einwilligung, John in den inneren Kreis von Deveneau einzuführen, hatte ihr das Gefängnis erspart und ihr Baby hatte zu Hause bleiben können. Er sah es ihren Augen an, dass sie gerade nicht wusste, was sie mit dieser neuen Information anfangen sollte. Sie blinzelte zweimal, langsam und sichtbar, und strich sich die Haarsträhne aus den Augen. »Du lässt mich einfach so laufen?«
»Einfach so.«
»Was ist mit unserem Deal?«
»Ich habe gesagt, dass ich dich davonkommen lasse. Mit der ganzen Geschichte. Es ist vorbei.«
»Dann … danke. Noch einmal.« Sie bewegte ihren Wäschehaufen in einen anderen Teil des Zimmers in dem verzweifelten Bemühen, beschäftigt zu wirken. Währenddessen kaute sie die ganze Zeit lautlos an ihrer Unterlippe – ein Zeichen dafür, dass ihre Gedanken weiter durch den Kopf kreisten.
»Sei schlau und mach was daraus. Bring dein Leben in Ordnung. Du hast jetzt wieder eine saubere Weste, aber das bedeutet nicht, dass sie nicht ganz leicht wieder schmutzig werden kann.«
»Oh, damit bin ich fertig«, sagte sie. »Ich habe gesagt, dass ich die Finger davon lasse, nicht wahr? Ich habe ein Baby, um das ich mich kümmern muss.« Mit dem Rücken zu ihm hantierte sie mit einigen Plastik-Babyflaschen und trug sie zur Spüle. Verloren in dem Versuch, alle Puzzleteile zusammenzufügen, drehte sie das Wasser auf, bewegte sich aber nicht. »Ganz ernsthaft. Vielen Dank.«
»Sorg dafür, dass es nicht umsonst war.«
»Richtig.« Sie drehte sich um und trocknete ihre Hände an einem Küchentuch. »Das Baby weint.«
»Oh …« Er ging zur Tür. »Ich gehe.«
Wieder konnte er sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sie furchtbar jung und furchtbar naiv war. Sie war nicht mehr als ein Kind.
»Gut … danke.«
Er nickte und schlüpfte in den Flur hinaus.
***
Manhattan hatte eine Art, seine Bewohner zu bestimmten Zielen zu führen, ohne dass ihnen dies bewusst wurde. Jedenfalls war dies Johns Gefühl, als er am späten Nachmittag vor dem NYU Downtown stand, dem Krankenhaus, in dem sein Vater lag.
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