1 ...7 8 9 11 12 13 ...28 Einer von Raymonds Füßen schlug unwillkürlich aus und erwischte ein Bein des kleinen Tisches an der Wand, zerbrach es in der Mitte und ließ den Tisch zu Boden gehen. Irish unternahm einen heldenhaften Versuch, seine Zinnschachtel zu retten, aber er war zu langsam. Die Schachtel fiel auf den Teppich, der Deckel sprang in eine Zimmerecke davon und der Inhalt verteilte sich als Schleier aus feinem weißen Pulver über den Boden.
Raymonds Körper zuckte unkontrolliert. Wie ein Sack nasses Getreide rutschte er von seinem Stuhl herunter und schlug auf dem Boden auf. Ein vertikaler, purpurroter Streifen teilte die Rückseite des Stuhls in zwei Hälften.
Jimmy lud zwei neue Patronen nach. Seine Zähne kauten an der Innenseite seiner rechten Backe. Mickey beobachtete, wie Jimmys Hände sich bewegten, und er sah, wie Irish zur Seite an die Wand zurückwich, mit einem Blick absoluten Abscheus auf seinem Gesicht. Der alte Mann vermochte den Blick nicht von Raymond und seinem zuckenden Bein abzuwenden, das weiter seine Körperflüssigkeiten in den Teppich einarbeitete.
Jimmy ging einen Schritt näher an Raymond heran. Er hielt die Pistole auf Armeslänge vor sich und drehte langsam sein Handgelenk hin und her, als ob es ihm schwerfiel sich zu entscheiden, auf welche Art und Weise er die Waffe am liebsten halten wollte. Er zog den Hammer zurück.
»Nimm das«, sagte er und feuerte drei weitere Ladungen in Raymond Selano.
Mickey trank sein Bier aus und stopfte die leere Flasche in die Manteltasche. Wie vorhin in der Bar begann der Raum zu schwanken und sich zu verschieben, sich auszudehnen und zusammenzuziehen … es war, als ob Mickey ihm beim Atmen zusehen konnte.
»Verdammt«, stammelte Irish. »Schau dir diese Sauerei an.«
Jimmy steckte die .38er in den Hosenbund. Ohne die Augen von Raymonds Körper zu nehmen, befahl er Irish: »Hol ein paar Messer und ein paar Plastiktüten.«
»Verdammt«, stammelte Irish wieder. »Ihr macht diese Scheiße in meiner Wohnung, ohne mir Bescheid zu sagen? Wenn man so was in meiner gottverdammten Bleibe tun will, Jimmy, dann sagt man gefälligst was. So was wie hier macht man einfach nicht.«
»Plastikmüllsäcke«, wiederholte Jimmy, »große. Und ein paar dieser kleinen Plastiktüten für Sandwiches. Ich will die Hände.«
Verstört schlurfte Irish in die Küche und kehrte mit einer Auswahl von Fleischermessern und einer zylindrischen Rolle aus Plastikmüllsäcken zurück. Er gab alles Jimmy, der auf ein Knie gestützt nach unten ging, das Ende der Rolle aus Müllsäcken festhielt und die Rolle wie ein Zauberer schüttelte, der ein Tischtuch unter einem mit Porzellangeschirr gedeckten Tisch wegzieht. Ein Teppich aus Plastik entrollte sich über die Länge des Wohnzimmers.
Mickey hockte sich neben Jimmy auf den Boden und kratzte sich geistesabwesend an der Rückseite seines zottigen Kopfes. Mit wenig Begeisterung holte Mickey ein langes, dünnes Messer aus seinem Mantel und rammte es in Raymonds Brust.
Er zwinkerte Jimmy zu. »Nur um auf Nummer sicher zu gehen.«
Grinsend schnippte Jimmy nach Mickeys Ohr und stand auf. »Hilf mir, ihn ins Bad zu schleppen«, sagte er. »Wir legen ihn in die Wanne.«
Jimmy zog seinen Mantel aus wie ein Chirurg, der sich auf eine Operation vorbereitete. Mickey steckte die Sammlung Fleischermesser in die Tasche seines Mantels, beugte sich nach unten und packte Raymond Selanos Hände. Irish stand im Türrahmen zwischen der Küche und dem Wohnzimmer und beobachtete, wie die beiden Männer den leblosen Körper ohne größere Schwierigkeiten ins Badezimmer brachten. Während er den Körper trug, die Hände voll mit Ray …
Ray Selanos Blut, erinnerte sich Mickey endlich an den Song, der ihm den ganzen Abend nicht hatte einfallen wollen.
Er fing an zu summen.
Im sanften Regen des Mittags stand John auf der anderen Straßenseite einer Gruppe baufälliger Wohnhäuser auf der West Side. Der Regen half ihm, herunterzukommen. Jedes Mal, wenn er die Augen schloss, sah er das wachsartige, emotionslose Gesicht von Roger Biddleman vor sich. Selbst in der Erinnerung regten ihn Biddlemans gezwungen wirkende Haltung und seine klinisch reine, von der Heiligkeit seines Hochglanzbüros umrahmte Miene maßlos auf. Leute wie Biddleman waren wie ein offenes Buch. Ihre Absichten und Beweggründe lagen so deutlich in der Luft wie die Kondensstreifen eines Jets bei blauem Himmel. Und meist waren ihre Absichten und Beweggründe, das wusste John aus Erfahrung, ausnahmslos eigennützig.
Ein Taxi rauschte durch eine Pfütze neben dem Bordstein und John erhaschte einen Blick auf sein müdes Spiegelbild in den flüchtigen Fenstern.
Er trank den letzten Schluck Kaffee aus seinem Styroporbecher und zitterte vor Kälte, als er die Tenth Avenue überquerte und durch einen Eingang den Drahtzaun hinter sich ließ, der neben anderen Dingen auch Tressa Walkers Gebäudekomplex umgab.
Der Secret Service hatte Tressa Walker vor etwa zwei Monaten geschnappt, nachdem sie ein paar gefälschte Hunderter in einer Reihe kleinerer, über ganz Manhattan verteilter Läden zurückgelassen hatte. Die Banknoten waren ausgezeichnete Fälschungen. Kersh erkannte sie von einem früheren Fall sofort wieder und erklärte, dass der Drucker – ein Jude aus Queens namens Lowenstein – derzeit in Haft war. Mit Tressas Fingerabdrücken auf den Geldscheinen war es für den Secret Service ein Leichtes gewesen, sie zu finden. In ihrem Auto fanden sich zahlreiche Packungen Pampers und Aspirin, die jeweils in einem anderen Geschäft mit einem gefälschten Hundertdollarschein bezahlt worden waren. In ihrer Geldbörse entdeckten sie zwei weitere Hunderter. Tressa Walker erwies sich als eine junge, zu Tode erschrockene Drogenabhängige mit einem Baby zu Hause, die schnell bereit war, ihre Informationen preiszugeben. Das Falschgeld kam von ihrem Freund, Francis Deveneau, der ihr einige Scheine gegeben hatte, um potenzielle Kunden zu überzeugen. Als Kind des Kapitalismus hatte Tressa jedoch beschlossen, die falschen Banknoten einfach selbst unter die Leute zu bringen und das Wechselgeld von ihren kleinen Einkäufen zu behalten. Aus Angst vor dem, was sie erwarten mochte, wenn sie sich weigerte zu kooperieren, stimmte sie bereitwillig zu, John in den Kreis von Deveneau einzuführen.
Tressas Wohnkomplex war heruntergekommen. Die Ziegelfassade war von zahlreichen Bränden dunkel wie ein blauer Fleck. Er war nur einmal hier gewesen, aber wie es aussah, hatte sich kaum etwas verändert. Hinter einem Metallzaun bellte ihn ein mürrischer Airedale-Terrier an, als er vorbeiging. Der Lärm zog mehrere Augenpaare an, die ihn aus verdunkelten Fenstern im ersten Stock anstarrten wie Fledermäuse mit schwarzen Knopfaugen aus ihrer Höhle heraus. Auf einer Feuerleiter über ihm saß eine Clique struppig aussehender Kinder, die ihn beobachteten wie Bauern, die einem Reisenden aus einem weit entfernten Land dabei zusahen, wie er ihr Dorf betrat.
Ein Notausgang auf der Rückseite des Gebäudes wurde durch einen Plastikbehälter offengehalten. John stieg über ihn hinweg und betrat einen dunklen, schimmlig riechenden Flur. Der stechende Geruch nach frischem Urin schlug ihm ins Gesicht. Irgendwo in weiter Ferne konnte er ein kleines Kind weinen hören, und eine TV-Spielshow war zu laut aufgedreht. Tressa Walker wohnte im zweiten Stock. Obwohl John schon einmal hier gewesen war, hatte er ihre Wohnung nicht betreten.
Er ging die Treppen nach oben und gab sich Mühe, leise zu laufen. Entlang der unverputzten Wände aus Ziegelsteinen boten Graffiti Lebensweisheiten wie phuck off und smoke it . Oben angekommen blieb John vor der Tür zu Tressas Wohnung stehen. Er klopfte einmal. Aus dem Inneren waren einige aufgeregte Geräusche zu hören, aber niemand kam, um zu öffnen. Wie beiläufig sah er sich um. Der Flur war leer, nur eine hungrig aussehende Katze starrte ihn von ihrem Platz auf der Fensterbank an.
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