Frieda, die dick geworden war und Alfeld längst nicht mehr gefiel, machte sich unverzüglich auf den Weg. Heinrich kehrte in die Stube zurück und setzte sich auf die Bank vor dem Ofen, denn Wärme konnte er jetzt gebrauchen, und der einzige Wärmespender in seinem Haus war der Kamin. Und Anna, seine Tochter.
Peter erschien im Nachtgewand. Er war nun neunzehn Jahre alt und musste alsbald verheiratet werden. Waldemar Klingenbiel war seit langem scharf auf Peter. Seine Tochter Magdalena war zwölf, also heiratsfähig. Heinrich stand dieser Verbindung nicht im Wege. Waldemar war zwar kein Ratsherr, und das Sankt-Andreas-Knochenhaueramt war nicht das führende, aber Klingenbiel hatte Geld. Hundert Marien groschen war ihm die Ehe wert. Das war keine gigantische Summe, aber Alfeld würde seinen Sohn endlich loswerden.
»Setz dich zu mir«, bat Heinrich. Peter nahm Platz, am äußersten Ende der Bank. Heinrich von Alfeld wusste, dass sein Sohn ihn abgrundtief hasste, ging aber gelassen darüber hinweg. In seinem Haus hasste jeder jeden. Nur Anna, die hasste nicht. Sie liebte ihren Vater.
»Was wollt Ihr, Herr Vater?«, fragte Peter. Er schaute an Heinrich Alfeld vorbei und musterte die Ofenkacheln, als hätte er sie noch nie gesehen.
»Ja, was denkst du denn? Was soll ich wohl wünschen? Dass du krepierst?«
»Wünscht Ihr das, Herr Vater?«
»Ach was! Ich bin Knochenhauer, ich handle mit Fleisch. Und du bist ein Stück Fleisch für mich, das ich günstig verkaufen möchte.«
»An Waldemar Klingenbiel, Herr Vater?«
»Genau, Sohn. Du wirst seine Tochter Magdalena heiraten.« Heinrich von Alfeld lächelte. Magdalena war ein ausgesprochen süßes Mädchen. Peter würde sie zwar heiraten, aber Alfeld hoffte, auch etwas von dem Kuchen abzubekommen. Besser konnte es doch gar nicht sein. Nur Gott würde dieser sündhaften Konstruktion nicht gewogen sein; deshalb hatte Alfeld bereits vorsorglich päpstliche Ablassbriefe erworben, die ihm 99 999 Jahre Sündenablass und Schutz vor dem Fegefeuer gewährten, und dann konnte man weitersehen. Ein Vermögen hatten diese Briefe gekostet, doch sie waren ihren Preis wert.
»Ich liebe dieses Mädchen aber nicht, Herr Vater«, wagte Peter einen schwachen Einwand. Ernst nehmen musste Alfeld ihn nicht, denn Peter wollte erben, und das konnte er nur, wenn er sich wohl verhielt.
»Ja, das ist Pech«, sagte Heinrich. »Aber du weißt selbst, dass es Heiraten aus Liebe nur bei den Armen gibt. Büdner, Tagelöhner, Gaukler und anderes Gesindel dürfen ihrem Herzen folgen oder, wenn du so willst, auch ihrem Schwanz. Unser einer setzt eben andere Prioritäten. Klingenbiel gibt Magdalena eine beachtliche Mitgift. Ich habe schon mit meinem Schwager Dirich Raven gesprochen. Er verkauft uns ein Haus in der Jacobistraße, auf dem auch die Braugerechtigkeit liegt. Ich meine, Junge, du bist vollkommen missraten, was nur deiner Mutter geschuldet sein kann. Du kannst überhaupt nichts. Dass du zum Knochenhauer taugst, habe ich gar nicht erwartet. Aber deine Mutter wollte doch, dass du Priester wirst. Ich habe dein Studium an der Universität Erfurt finanziert … Und du? Ein Jahr hast du durchgehalten. Du bist dumm, Peter, so dumm wie deine Mutter. Theologie und Jurisprudenz sind für dich Bücher mit sieben Siegeln. Aber vielleicht, habe ich gedacht, wird ein anständiger Kaufmann aus ihm, wenn er schon in der Stadt versagt, in der Adam Riese tätig war. Adam Riese, sagt dir das was? Nein? Natürlich nicht. Du kannst ja nicht einmal rechnen! Genauer gesagt, du rechnest wie ein Lutheraner: Eins mit eins ist vier. So rechnet dieser Luther doch.«
»Herr Vater, so dürft Ihr nicht reden«, sagte Peter leise.
»Nein? Ich darf in meinem Haus nicht reden, wie mir der Schnabel gewachsen ist? Weil mein missratener Erstgeborener ein Martinianer ist? Dein Luther bringt doch nur Unordnung ins Reich. Ich bin Metzger, ich weide Tiere aus und verkaufe das Fleisch, und mit Gott bin ich im Reinen.« Heinrich von Alfeld klopfte sich auf die Schulter. »Wirst du Magdalena Klingenbiel heiraten?«
»Wenn Ihr es wünscht.«
»O ja, das tue ich.«
»Dann heirate ich sie.«
»Brav, Peter.« Alfeld nahm den Schürhaken und stocherte in der Glut. »Im Sommer soll die Hochzeit sein. Und nun kannst du gehen. Gute Nacht!«
Die Brüder sangen. Sie lobpreisten den Herrn, was bei Predigerbrüdern nicht weiter verwunderlich war. Eusebius konnte zwar den Text nicht verstehen, aber er erkannte die Melodie. Eigentlich hatte er vorgehabt, am Stundengebet teilzunehmen. Durch das kleine, mit Sackleinen verhängte Fenster drang nicht viel Licht in die Zelle, aber Eusebius war klar, dass es längst tagte.
Er konnte nicht aufstehen. Mors est quies viatoris – finis est omnis laboris , dachte er: Der Tod ist die Ruhe des Wanderers – er ist das Ende aller Mühsal. Nicht, dass er sich prinzipiell den Tod wünschte; trotz seiner apokalyptischen Visionen lebte er gern. An diesem Morgen allerdings hätte er lieber die Ruhe des Wanderers genossen. Tote mussten nicht aufstehen. Sie konnten einfach liegen bleiben, und das für immer. Genauer gesagt, bis zum Jüngsten Gericht.
Eusebius hatte nicht nur Kopfschmerzen, vor allem peinigte ihn ein flaues Gefühl im Magen. Natürlich würde ihm der Bruder Arzt helfen können: ein Kräutertrank, und alles Übel war beseitigt. Die Frage war nur, wie es ihm gelingen sollte, zum Bruder Arzt zu kommen.
Unmöglich, dachte Eusebius und schloss die Augen, heute tue ich keinen Schritt.
»Ehrwürdiger Vater?«, fragte jemand. Es musste ein Mensch sein, denn nur Menschen waren der Sprache mächtig. Dieser Mensch war in Eusebius’ Zelle eingedrungen, ohne dass er es bemerkt hatte. Der Dominikanerpater öffnete die Augen und linste zur Tür. Dort stand ein blutjunger Novize.
»Nein«, sagte Eusebius.
»Nein, Ehrwürdiger Vater?«
»Nein, nein und nochmals nein.«
»Der ehrwürdige Prior meinte, ich solle mich um Euch kümmern.«
»So, meinte er das?« Eusebius ließ den Kopf auf das dünne Kissen sinken. Vermutlich hatte sich im Konvent längst herumgesprochen, dass er am vergangenen Abend mit dem Hildesheimer Weihbischof gesoffen hatte. Seiner Reputation war das offenbar nicht abträglich, denn immerhin hatte ihm der Prior einen hübschen Novizen geschickt.
»Ich habe hier einen Kräutertrank vom Bruder Arzt«, sagte der Knabe. »Trinkt ihn, und alle Eure Leiden sind … Der Bruder Arzt hat so ein komisches französisches Wort benutzt, als er mir den Trank gab. Ich bin doch nur ein Bauernsohn, Ehrwürdiger Vater!«
»Perdu?«
»Ja, so sagte er. Per dü!« Der Novize setzte sich zu Eusebius aufs Bett und lächelte. Aus dem Becher in seiner Hand dampfte es, und es roch nach Minze und Kamille.
Pater noster qui es in coelis , betete Eusebius still vor sich hin. Et ne nos inducas in tentationem – und führe uns nicht in Versuchung. »Wie heißt du?«, fragte er.
»Johannes, Ehrwürdiger Vater«, sagte der Novize stolz. Das war ein schöner Name. Der Täufer hieß so und der Lieblingsjünger Jesu ebenfalls. Aber andererseits ist es nichts Besonderes, dachte Eusebius, die Welt ist voll von Johannessen, und sie wird dennoch bald untergehen.
»Und du bist der Sohn eines Bauern?«, fragte Eusebius. »Warum hat dich dein Vater in den Konvent geschickt?«
»Ihr wart in Rom, Vater?«, erkundigte sich der Novize rasch. Eusebius horchte auf; die Frage nach seiner Herkunft war dem Jungen offenbar unangenehm.
»Ja, ja«, Eusebius machte eine abwehrende Handbewegung, »aber es ist sehr unhöflich, eine Frage mit einer Gegenfrage zu beantworten. Also noch einmal: Warum hat dich dein Vater in den Konvent geschickt?«
»Ich weiß nicht, Herr. Es hat etwas mit der Stiftsfehde zu tun. Habt Ihr von der Stiftsfehde gehört? Ich verstehe das ja alles nicht. Ich bin viel zu jung. Und ich kann noch nicht mal richtig lesen. Aber das Land meines Vaters … also, das hat alles irgendwie mit dem Bischof zu tun. Und mit dem Herrn von Calenberg. Aber das müsst Ihr den Prior fragen, Heiliger Vater. Der weiß Bescheid.«
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