»Aha.«
»Mehr hast du dazu nicht zu sagen?«
»Ich bin ein einfacher Mann, Herr.«
»Und führst im Bunten Ochsen laute Reden gegen Papst und Reich«, fügte Tile Brandis hinzu.
»Nicht gegen das Reich, Herr, sondern gegen den Kaiser«, sagte der Wandergeselle. Diese Antwort machte Tile Brandis stutzig: Der Mann verstellte sich und war klüger, als es den Anschein hatte. Dass er zwischen Kaiser und Reich unterschied, bewies, dass er über Rechtskenntnisse verfügen musste. Die verfassungsrechtliche Formel Kaiser und Reich setzte die beiden Seiten nicht etwa in eins, sie schied sie voneinander: Kaiserliche und Reichsinteressen waren beileibe nicht mehr identisch. Frankreich und Karl V. führten Krieg gegeneinander, weil sich der französische König aus der Umklammerung durch die Habsburger befreien wollte; alle Landgrenzen Frankreich stießen an habsburgisches Territorium. Der Krieg gegen Franz I. lag aber allein im Interesse des Kaisers, Reichsinteressen wurden von ihm eigentlich nicht berührt. Aber konnte ein Wandergeselle so etwas wissen? Es fiel ja sogar Brandis nicht leicht, es zu durchschauen. War der Wandergeselle am Ende gar keiner, sondern ein lutherischer Prädikant? Die Neugierde des Consuls war endgültig herausgefordert.
»Aus welcher Stadt stammst du?«
»Aus Nordhorn.«
»Und was ist dein Beruf?«
»Zimmermann, Herr.«
»Wie Joseph?«
»Ja, aber ich habe keinen Sohn.« Der angebliche Geselle lächelte. Brandis’ Zweifel wuchsen nur noch. Sogar etwas wie Witz schien der Mann aus Nordhorn zu haben, wenn er denn wirklich aus dieser Stadt kam.
»Was willst du in Hildesheim?«
»Ich suche Arbeit, Consul.«
»Im Bunten Ochsen ?«
»Ihr kennt meine Wege nicht, Herr. Kreuz und quer bin ich durch die Lande gezogen, aber niemand brauchte mich. Auch in Hildesheim habe ich bei drei Zimmerleuten vorgesprochen. Und ich beherrsche mein Handwerk. Aber nein, leider kein Bedarf. Ich erhielt ja nicht einmal die Gelegenheit zu zeigen, was ich kann, also musste ich meinen Ärger mit ein paar Bier wegspülen.«
»Um dann gegen den Heiligen Vater zu lästern«, sagte Tile. »Er betrügt uns, Herr.«
»Und der Kaiser?«
»Der betrügt uns auch. Das Reich ist ihm doch schnurz – er kann ja nicht mal Deutsch. Aber Geld will er. Eine Türkensteuer. Was gehen mich die Muselmanen an? Für mich sind sie weit weg. Bei den Hungarn … Wo ist das? Jedermann ist doch der Rock näher als die Hose. Auch Euch, Ratsherr. Oder ist Euch das Magyarenreich wichtiger als Hildesheim?«
»Man darf nicht nur an sich selbst denken«, sagte Brandis ohne große Überzeugungskraft, denn nichts anderes tat er üblicherweise. Seine Familie – und Gott natürlich – bildeten den Mittelpunkt seiner Welt. Gesche war schwanger. Er wünschte sich einen Sohn. Das und seine Geschäfte beherrschten sein Denken sogar mehr als die Ratsangelegenheiten seiner Heimatstadt; insofern hatte der Wandergeselle schon Recht. Aber wenn Tile vor seinem Gedenkbuch saß, zwang er sich zu einem weiten Horizont. Die Nachwelt sollte nicht nur sehen, dass er ein guter Geschäftsmann und ein liebevoller Familienvater gewesen war, sondern auch ein Homo politicus.
»Ihr habt auch keine Arbeit für mich, Herr?«, fragte der Geselle.
»Kennst du die Lovekenstube?«, wollte Tile Brandis wissen; auf die Frage des Gesellen ging er vorerst bewusst nicht ein.
»Wie?«
»Die Lovekenstube?«
»Nein, Herr. Ist das eine Badestube?«
»Allerdings.«
»Mit drallen Bademägden?« Der Wandergeselle lächelte. »Kann man so sagen.«
»Ich kenne sie nicht … würde sie aber gern kennen lernen.«
»Nun, heute ist sie geschlossen«, sagte Brandis. »Aber vielleicht kann man sie morgen wieder besuchen … Wie ist dein Name?«
»Wenzel«, sagte der Geselle.
»Nun, Wenzel, auch ich habe keine Arbeit für dich.« Consul Brandis erhob sich. »Ich habe meine Hände zwar in vielerlei Geschäften, aber das Handwerk der Zimmerleute gehört nicht dazu. Tut mir Leid.« Er begab sich zur Tür und schlug dreimal gegen sie. Wenige Lidschläge später öffnete der Büttel. »Er kann gehen«, sagte Brandis mit einer Kopfbewegung hin zu dem Verdächtigen.
»Was, Herr Consul?«
»Spreche ich so undeutlich? Er ist entlassen.«
»Nicht mal als Knecht?«, fragte der Wandergeselle. »Ich mache alles, selbst die schmutzigsten Arbeiten.«
»Ich habe Knechte«, erwiderte Tile und ging hinaus.
»Tot?«, fragte Johanna von Alfeld. Ihr Gesicht war bleich.
»Ja, tot«, sagte Heinrich. Er hatte nicht die geringste Lust, über den Vorfall in der Lovekenstube zu sprechen. Hunger hatte er, aber die Weinsuppe war längst erkaltet. Heinrich von Alfeld brach sich ein Stück vom Brot.
»Soll ich die Suppe aufwärmen lassen?«, fragte Johanna. »Ich wäre dir sehr dankbar«, entgegnete Heinrich.
»Nun, dann sage ich der Magd Bescheid.« Johanna blieb aber sitzen. Weiber waren nun mal furchtbar neugierig. »Wer hat es denn getan?«
»Weiß ich doch nicht.« Heinrich von Alfeld hatte die Nase voll. Seine Ratskollegen hatten ihn bereits mit inquisitorischen Fragen gequält, nun wollte er in Ruhe gelassen werden.
»Hast du nichts gesehen?«
»Geh ins Bett!«, sagte von Alfeld müde. Er mochte kein weiteres Wort mehr wechseln, mit niemandem.
»Heinrich!« Jetzt machte Johanna auch noch diese Kuh augen, von denen sie glaubte, sie würden ihn erregen. Und sie neigte den Kopf zur Seite – das war alles andere als verführerisch. Die Frau, mit der Heinrich von Alfeld seit elf Jahren verheiratet war, widerte ihn nur noch an.
»Ins Bett! Oder ich hole den Stock!«
»Das darfst du nicht.« Johanna zog die Lippen kraus. Sie hatte Recht, als Ehemann durfte er seine Frau zwar schlagen, aber nur in Maßen. Übertrieb er die Züchtigung, würde man ihn vor den Rat zitieren, und sein blödes Weib hätte Anspruch auf Entschädigung. Warum hatte er sie nur geheiratet? Eine rhetorische Frage: Sein Vater hatte die Ehe gestiftet. Johanna war schließlich eine Raven, und die Raven waren reich. Deshalb hatte er die dumme Kuh ehelichen müssen. Pecunia non olet! Aber sie, sie stank ihm.
»Sofort ins Bett mit dir!«, befahl er erneut. Nun endlich gehorchte sie und verschwand.
Als junger Mann hatte er immerhin noch gehofft, dass Liebe aus Gewohnheit entstand. Aber aus Gewohnheit entstand nur Hass.
Heinrich von Alfeld schenkte sich Wein ein. Er handelte zwar mit Einbecker Bier, das als das beste Bier der Welt galt, aber als wohlhabender Knochenhauer und Ratsherr trank er natürlich am Abend einen Krug guten Franzenweins. Das konnte er sich leisten, auch dank Johannas üppiger Mitgift. Sie hatte dafür gesorgt, dass er sich zu den angesehensten Bürgern Hildesheims zählen durfte. Aber nun brauchte er sie nicht mehr. Er stand auf eigenen Füßen, und zwar sehr sicher.
Heinrich von Alfeld erhob sich und ging zur Tür. Schon lange grübelte er darüber nach, wie er sein Weib auf gewandte Weise beseitigen konnte. Den Beischlaf vollzog er seit Jahren nicht mehr; wenn ihn die Geschlechtslust ankam, ging er entweder in die Badestube oder zu seiner Tochter Anna. Anna war ein liebes Mädchen, sehr nachgiebig und mit einer sehr weichen Haut.
Heinrich riss die Tür auf. Im Vorraum hockte die Magd Frieda auf einer Bank, schwankend zwischen dem Bedürfnis, sofort einzuschlafen, und der Furcht, dass ihr Herr noch Wünsche äußern könnte.
Ihr Herr hatte einen Wunsch.
»Frieda, bring mir meinen Sohn!«, ordnete er an.
»Welchen, Herr?«
»Ja, welchen schon, dummes Stück?! Den ältesten natürlich.«
»Peter?« Frieda war noch nicht ganz bei sich.
»Ich habe nur einen ältesten Sohn«, sagte Alfeld und schlug die Magd ins Gesicht. Das stimmte nicht ganz, denn seinen ersten männlichen Nachkommen hatte er vor vielen, vielen Jahren mit Frieda gezeugt; Johanna war damals zu jung und nicht empfängnisbereit gewesen. Das Kind, das nicht einmal getauft worden war, hatte er sofort nach der Entbindung in der Abortgrube versenkt. Er wollte keine Bankerte – die verursachten nur Schuldgefühle und Kosten.
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