»Im Moment – ja.«
»Jemand da?«
»Ja.«
»Alles klar. Okay, Kumpel, was willst du?«
»Ich muss die Wahrheit wissen, Wells. Ich brauche die unbearbeiteten Infos, die nicht in den Nachrichten und im Internet auftauchen. Die Wahrheit über den Diebstahl von Odins Schild und die Deutschen, die ihn gestohlen haben. Besonders über die Deutschen. Echte Aufklärungsdaten vom MI5 und SAS, nicht die Bröckchen, die man der Öffentlichkeit hinwirft.«
»Steckst du in Schwierigkeiten?«
»Gewaltig.« Seinen Commander log man nicht an, ehemaliger oder nicht.
»Brauchst du Hilfe? Sam, Jo und die Jungs würden sofort alles stehen und liegen lassen, um dir zu helfen. Natürlich inoffiziell.«
»Noch nicht.«
»Du hast dir die Hilfe verdient, Drake. Sag‘ nur ein Wort und die stehen auf der Matte. Jederzeit.«
»Werde ich.«
»Okay. Und übrigens – redest du dir immer noch ein, du wärst einfach nur beim guten, alten SAS gewesen?«
Drake zögerte. »Das ist zumindest eine akzeptable Erklärung, das ist alles.«
Er legte auf. Seinen ehemaligen Commander um Hilfe zu bitten war nicht einfach gewesen, aber Bens Sicherheit war wichtiger als jede Form von Stolz. Er linste erneut durch den Türspion, sah nur einen leeren Korridor und setzte sich neben Ben.
»Neun Teile von Odin hast du gesagt? Was soll das heißen?«
Ben zeigte auf das Display. »Nun … ich verfolge gerade die Spur dieser neun Teile. Nicht, dass sie sorgfältig versteckt wären oder so. Neun ist anscheinend eine besondere Zahl in der nordischen Mythologie. Odin hat sich selbst neun Tage und neun Nächte an etwas gekreuzigt, das man den Weltenbaum nennt, hat gefastet und hatte einen Speer in der Seite, genau wie Jesus Christus und das viele Jahre vor Jesus. Das sind Fakten , die von wirklichen Forschern zusammengetragen wurden. Es könnte sogar sein, dass diese Geschichte die Erzählung von Jesus Christus beeinflusst hat. Der Speer ist das dritte Relikt und steht in Verbindung mit dem Weltenbaum, auch wenn ich keinerlei Hinweise entdeckt habe, wo wir ihn finden können. Der legendäre Standort des Baums ist in Schweden. An einem Ort namens Uppsala.«
»Langsam, langsam. Steht da irgendwas über Odins Schild oder sein Pferd?«
Ben zuckte die Achseln. »Nur, dass der Schild einer der größten archäologischen Funde aller Zeiten war und um den Rand herum die Worte stehen: Himmel und Hölle sind nur vorübergehende Unwissenheit, es ist die unsterbliche Seele, die zum Richtigen oder Falschen neigt . Offensichtlich ist das Odins Fluch, aber niemand war bisher in der Lage herauszubekommen, was es bedeuten soll.«
»Vielleicht ist das einer dieser Flüche, die man einfach live erleben muss.« Drake grinste.
Ben ignorierte ihn. »Hier steht, das Pferd ist eine Skulptur. Eine weitere Skulptur, Odins Wölfe , steht im naturhistorischen Museum in New York.«
»Seine Wölfe?« Drake schwirrte langsam der Kopf.
»Er ritt auf zwei Wölfen in den Kampf. Anscheinend.«
Drake runzelte die Stirn. »Weiß man, wo all die neun Teile stecken?«
Ben schüttelte den Kopf. »Einige fehlen, aber …«
Drake unterbrach ihn. »Aber was?«
»Nun, es hört sich vielleicht albern an, aber da hat sich schon so eine Art Legende gebildet. Etwas darüber, dass man alle neun Relikte von Odin zusammenbringen soll und das Grab der Götter finden. Mehrere Gelehrte beziehen sich darauf.«
»Standard eben«, sagte Drake. »All diese antiken Götter sind von Legenden umgeben. Mich verwundern all die materiellen Bezüge auf Odin, wenn der Kerl doch ein Gott gewesen sein soll.«
Ben musterte ihn. »Schon mal von Euhemerismus gehört?«
Auf Drakes Gesicht breitete sich ein Grinsen aus. » Euhemer -was?«
»Euhemerismus. Der Versuch, mythologische Bezüge und Figuren als eine echte Reflexion tatsächlicher historischer Ereignisse und Personen rational zu interpretieren. Die originalen Geschichten wurden umgeformt, übertrieben oder verändert, während jede davon wieder und wieder erzählt wurde. Viele Menschen glauben, dass es König Artus wirklich gegeben hat, aber er besaß sicher kein magisches Schwert und lebte in einem Märchenschloss. Die Legende wird zur Legende, indem sie reich ausgeschmückt wird. Euhemeros sagte, die Mythologie sei getarnte Geschichte . Das könnte die Bezüge auf Odin erklären.«
»Aber hat Odin nicht gelebt, lange bevor es Menschen gab? Sein Schild soll Millionen Jahre alt sein, sagt man.«
Ben zuckte die Achseln. »Wir dürfen nicht die historischen Verweise darauf vergessen, dass sich das Grab von Zeus auf Kreta befindet, von Pythagoras im dritten Jahrhundert entdeckt. Varro und andere haben das Grab auch schon für sich beansprucht, aber niemand war sich über des Ortes sicher.«
Drake seufzte. »Verdammte Schande, würde ich sagen.«
Ben nickte und sah auf die Uhr. »Auch Internet-Zauberer müssen mal was essen.« Er dachte eine Sekunde nach. »Und ich glaube, mir fallen gerade ein paar neue Songtexte für die Band ein. Wie wäre es mit Croissants und Brie zum Brunch?«
»Schinkensandwich hört sich besser an.«
Drake öffnete die Tür einen Spalt, sah sich um und gab Ben dann ein Zeichen, ihm zu folgen. Er sah das Lächeln auf dem Gesicht seines Freundes, aber auch die Erschöpfung in den Augen. Ben verbarg sie gut, aber er konnte sich nur noch mit Mühe auf den Beinen halten.
Drake ging zurück ins Zimmer und verstaute alle ihre Habseligkeit in dem Rucksack. Während er die schweren Gurte festzurrte, hörte er, wie Ben leise »Hi« sagte und sein Herz schien einen Moment auszusetzen vor Angst, was ihm erst das zweite Mal in seinem Leben passierte.
Oh nein.
Das erste Mal war es an diesem schicksalsschweren Abend passiert, an dem Alyson ihn verlassen hatte und etwas von unüberbrückbaren Differenzen redete – du führst dich auf, als wären wir in einem verdammten Bootcamp . Es war der letzte Satz, den sie je zu ihm gesagt hatte, bevor sie bei dem Autounfall ums Leben gekommen war.
Er rannte zur Tür, jeder Muskel in seinem Körper angespannt, und sah dann das alte Ehepaar, das langsam den Korridor entlangging. Danke . Er atmete tief durch, fasste sich.
Aber Ben bemerkte das blanke Entsetzen in seinen Augen, eine Sekunde, bevor er es verborgen hatte. Dummer Fehler .
»Keine Sorge«, sagte Ben mit einem schmalen Lächeln. »Ich bin okay.«
Drake nahm einen zittrigen Atemzug und ging dann als Erster die Treppe hinab, alle Sinne gespannt. Er checkte die Lobby, sah keine Bedrohung und trat auf die Straße hinaus.
Wo war wohl der nächste kleine Seitenstraßenimbiss? Er wählte willkürlich eine Richtung und sie ließen den Louvre hinter sich.
Der dicke Mann aus München mit der Präzision eines Hirnchirurgen sah sie sofort. Er rief sich das Foto ins Gedächtnis und erkannte den kräftig gebauten und gut ausgebildeten Mann aus Yorkshire und seinen langhaarigen Freund in Sekunden. Er fixierte sie im Fadenkreuz.
Er verlagerte seine Position, der hohe Standort gefiel ihm gar nicht, genauso wenig wie der weiße Splitt, der sich ihm in die fleischigen Extremitäten bohrte.
In sein Schultermikro flüsterte er: »Hab sie im Visier.«
Die Antwort kam überraschend schnell. »Töte sie.«
Paris, Frankreich
Drei Kugeln wurden in schneller Folge abgefeuert.
Die erste wurde von dem Stahltürrahmen neben Drakes Kopf abgelenkt und flog als Querschläger die Straße entlang, traf eine alte Frau am Arm. Sie drehte sich um die eigene Achse und stürzte. Die Blutspritzer sahen aus wie ein Fragezeichen.
Die zweite peitschte an Bens Kopf vorbei.
Die dritte traf den Beton, auf dem Ben stand, eine Nanosekunde, nachdem Drake ihn wie ein Footballspieler zu Boden gerissen hatte. Die Kugel prallte vom Beton ab und schlug durch das Hotelfenster hinter ihnen.
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