Tante Clarissa hielt schnurstracks auf die Steinbank zu. Um nicht über Steine oder Schlingpflanzen zu stolpern, leuchtete ich mit der Taschenlampe den Boden vor meinen Füßen ab, während ich ihr langsam durch die Kirche folgte. Nachdem Percy keine Gespenster mehr jagen durfte, verlegte er sich auf die andere große Leidenschaft der Terrier. Er buddelte, und zwar genau unter besagter Steinbank.
»Hey, Percy, was gibt es denn da?« Ich beugte mich zu ihm herunter. Schnaufend scharrte er auf dem Boden herum. Efeu, Blätter, Sand, alles flog wild durch die Luft. Der Strahl meiner Taschenlampe traf auf die quadratische Bodenplatte, die Percy bearbeitet hatte. Unter dem Dreck zog sich ein großer Sprung quer über den Stein. Wie ein Spinnennetz rankten sich mehrere mosaikhafte Sprünge darüber. Wahrscheinlich war die gesamte Kirche mal mit solchen Platten ausgelegt worden.
»Da ist doch gar kein Mauseloch, Percy!« Ich wollte mich gerade wegdrehen, als Tante Clarissa mich am Arm packte und mit weit aufgerissenen Augen gen Boden nickte.
»Sieh noch mal genau hin!« Wie hypnotisiert, zog sie sich das Bettlaken vom Kopf und sank vor der Steinbank auf die Knie.
»Da ist nichts«, beharrte ich. Aber Percy schien anderer Meinung zu sein. Wild mit dem Schwanz wedelnd setzte er sich neben Tante Clarissa, bellte spitz und stupste seine Nase immer wieder gegen mein Schienbein. Ganz so, als ob er sagen wollte: »Ich rieche was, was du nicht siehst!«
Zögernd wischte Tante Clarissa den Dreck beiseite. Noch ein paar Körnchen und noch ein paar. Dann zog sie ihre Brille aus ihrer Jackentasche, beugte sich vor und nickte. Als sie wieder zu mir aufsah, hatten ihre Augen so ein ganz gewisses Glitzern. Wie das von kleinen Kindern unter dem Weihnachtsbaum.
»Denk mal an das, worüber wir heute Abend gesprochen haben!« Tante Clarissa rückte ein Stück zur Seite. Worüber hatten wir denn gesprochen? König Artus, Merlin, die Ritter der Tafelrunde? Ich legte den Kopf zur Seite und betrachtete das Muster, das das Efeu auf dem gesprungenen Stein zurückgelassen hatte. Da plötzlich fiel der Groschen.
Blitzschnell kniete ich mich neben meine Tante und strich vorsichtig mit der Hand über die Platte. Ich sog scharf die Luft ein. »Das ist aufgemalt!«
Natürlich hatten Regen, Sonne und das Efeu in fast vierzig Jahren dafür gesorgt, dass die Zeichnung mehr zu erahnen als wirklich zu sehen war. Aber mit viel Fantasie erkannte ich, was Neal seinen Freunden als Wegweiser hinterlassen hatte. Behutsam fuhr ich mit dem Zeigefinger die Konturen ab.
»Excalibur im Felsbrocken!«, hauchte ich ehrfürchtig.
»Exakt, und hätten wir ihn nicht verscheucht, wäre unser Gespensterfreund jetzt schon mitsamt dem Gral über alle Berge«, flüsterte Tante Clarissa. »So sicher wie das Amen in der Kirche. Hier drunter liegt der Gral der Erkenntnis vergraben!«
»Und wie kommen wir an ihn ran?«
Noch während ich überlegte, hatte Tante Clarissa die Schaufel entdeckt. Sie lehnte an einer Säule. Entweder hatte Betty O’Donald oder das Gespenst sie hier vergessen.
»Geht mal ein paar Schritte zur Seite, ihr zwei!« Mit beiden Hände umfasste Tante Clarissa den Stiel und ließ die Schaufel mit voller Wucht auf die Steinplatte herunterdonnern. Das scheppernde Krachen hallte von den Wänden wider. Ich hätte meiner zierlichen Tante so viel Kraft gar nicht zugetraut. Immer wieder riss sie die Schaufel in die Höhe. Der Stein splitterte, teilte sich in große Scherben auf, die mit jedem Schlag kleiner wurden, zerbröckelten und schließlich mit einem metallischen Kling-Klong in einem dunklen Loch verschwanden. Plötzlich blitzte es im Schein meiner Taschenlampe auf. Gleichzeitig sanken wir auf die Knie und betrachteten das, was da unter dem Geröll zum Vorschein kam. Eine Kiste!
»Nur zu!« Tante Clarissa stemmte keuchend die Hände in die Seiten. Meine Wangen glühten vor Aufregung, als ich ihr meine Taschenlampe in die Hand drückte. Ich hielt die Luft an und beugte mich zu dem Loch herunter. Mit beiden Händen schob ich die Steinbrocken zur Seite.
» Gral der Erkenntnis «, las ich die mit einem schwarzen Edding geschriebenen Worte. Darüber hatte jemand, vermutlich Neal, die Miniatur eines Schwertes, das in einem Felsen steckte, auf den halbrunden Deckel gelötet. Wahrscheinlich hatte es die Kiste ursprünglich in waagerechter Position geschmückt und genauso wahrscheinlich hatte Tante Clarissa ihm eins mit der Schaufel verpasst. Denn jetzt hing das Schwert Excalibur mit dem Felsbrocken nach unten, seinem Griff nach oben etwas wackelig auf dem Deckel.
Vorsichtig hob ich die Kiste aus dem Loch. Sie war keine Schatztruhe, wie sie in jedem Piratenfilm vorkommt. Nein, sie war viel, viel kleiner. Ich würde schätzen, dass sie Breite und Länge eines DIN-A4-Blattes hatte und vielleicht zwanzig Zentimeter hoch war. Inklusive des halbrunden Deckels. Sie war komplett aus Eisen, in das ein romantisches Rosenmotiv eingearbeitet war. Ein verrostetes Vorhängeschloss bewahrte den Inhalt vor neugierigen Blicken.
»Ha!«, jubelte Tante Clarissa, stand auf und klopfte sich den Dreck von den Knien. »Was wird Olivia nur für Augen machen, wenn wir ihr morgen den Gral der Erkenntnis präsentieren?«
Darauf freute ich mich auch schon, allerdings bezweifelte ich stark, dass Maud unsere Aktion gut finden würde. »Nur schade, dass wir nicht mal einen winzig kleinen Blick hineinwerfen können«, bedauerte ich.
»Ach«, winkte Tante Clarissa großmütig ab. »Der Inhalt geht uns nun wirklich nichts an.« Sie fröstelte. »Und wenn wir nicht wollen, dass uns gleich ein verschlafener Sergeant Oaks begegnet, weil Willow das halbe Dorf in Alarmzustand versetzt hat, dann sollten wir uns jetzt wirklich auf den Heimweg machen.«
Ich hatte nichts dagegen. Die Schatzkiste fest gegen meinen Bauch gedrückt, folgte ich Tante Clarissa und Percy zu unserem Auto.
Ich habe keinen Beweis dafür. Nirgendwo hat zum Beispiel ein Ast geknackt oder lugte ein weißer Bettlakenzipfel hinter einem Baum hervor, und trotzdem sagte mir mein grummelnder Bauch, dass uns jemand auf den Fersen war.
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