Charles Dickens
Ein Weihnachtslied in Prosa
oder
Eine Geistergeschichte zum Christfest
Aus dem Englischen von Trude Geissler
Reclam
Englischer Originaltitel:
A Christmas Carol in Prose, Being a Ghost-Story of Christmas
2013, 2021 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Covergestaltung: Anja Grimm Gestaltung
Coverabbildung: © Gutentag-Hamburg
Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Made in Germany 2021
RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN 978-3-15-960366-7
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-020291-3
www.reclam.de
Ich habe mich bemüht, in diesem Gespensterbüchlein den Geist einer Idee zu erwecken, die meine Leser weder mit sich selbst, noch untereinander, noch mit der Weihnachtszeit oder gar mit mir unzufrieden machen soll. Möge er ihre Häuser in angenehmer Weise heimsuchen und keiner wünschen, ihn zu bannen!
Dezember 1843
Dero getreuer Freund und Diener
C. D.
Erste Strophe
Marley war tot, um damit anzufangen. Darüber gibt es gar keinen Zweifel. Der Totenschein war vom Geistlichen, vom Schreiber, vom Leichenbestatter und vom Hauptleidtragenden unterzeichnet. Scrooge hatte ihn unterschrieben, und Scrooges Name war gut an der Börse, wohin auch immer er seine Unterschrift setzte. Der alte Marley war tot wie ein Türnagel.
Wohlgemerkt! Ich will nicht behaupten, dass ich aus eigener Erfahrung wüsste, was an einem Türnagel so besonders Totes sei. Ich selbst wäre wohl geneigt, einen Sargnagel für das toteste Stück Eisen anzusehen, das im Handel vorkommt. Doch in dem Gleichnis steckt die Weisheit unserer Vorfahren, und hieran sollen meine unheiligen Hände nicht rühren, sonst ist es um unser Land geschehen. Erlaubt mir daher, mit Nachdruck zu wiederholen, dass Marley so tot war wie ein Türnagel.
Scrooge wusste doch, dass er tot war? Selbstverständlich wusste er das. Wie hätte es auch anders sein können! Scrooge und er waren Geschäftsteilhaber seit ich weiß nicht wie viel Jahren. Scrooge war sein alleiniger Testamentsvollstrecker, Nachlassverwalter, Bevollmächtigter, sein alleiniger Erbe, sein einziger Freund und sein einziger Leidtragender. Und selbst Scrooge war durch dies traurige Ereignis nicht so schrecklich getroffen, dass er nicht als ausgezeichneter Kaufmann noch am Tage des Begräbnisses den doch unbezweifelbar günstigen Abschluss dieses Geschäftes feierlich gebucht hätte.
Die Erwähnung von Marleys Begräbnis bringt mich zum Ausgangspunkt meiner Erzählung zurück. Es gibt also gar keinen Zweifel, dass Marley tot war. Das versteht sich ausdrücklich, sonst ist nichts Wunderbares an der Geschichte, die ich erzählen will. Wären wir nicht völlig davon überzeugt, dass Hamlets Vater tot war, bevor das Stück beginnt, so wäre an seinem nächtlichen Umherwandeln im Ostwind auf den Wällen seines Schlosses nichts Merkwürdigeres, als wenn sich irgendein Herr mittleren Alters unbesonnenerweise nach Dunkelwerden an einen zugigen Ort begäbe – sagen wir auf den St.-Pauls-Kirchhof –, bloß um den lahmen Geist seines Sohnes in Erstaunen zu setzen.
Scrooge ließ des alten Marley Namen nicht überpinseln. Nach Jahren noch stand er über der Ladentüre: Scrooge & Marley. Die Firma war unter dem Namen Scrooge & Marley bekannt. Leute, die neu ins Geschäft kamen, nannten Scrooge zuweilen Scrooge, zuweilen auch Marley, doch er hörte auf beide Namen, es war ihm gleich.
Oh, er war ein Blutsauger, dieser Scrooge, ein Erpresser, ein zusammenscharrender, raffender, sich einkrallender, habgieriger alter Sünder. Hart und scharf wie ein Feuerstein, aus dem kein Stahl je einen wohltuenden Funken geschlagen, verschlossen und selbstsüchtig und einsiedlerisch wie eine Auster. Seine innere Kälte ließ seine alten Gesichtszüge erstarren, machte seine spitze Nase noch spitzer, seine Wangen noch runzliger und versteifte seinen Gang. Sie machte seine Augen rot und seine dünnen Lippen blau und krächzte aus seiner schrillen Stimme. Wie ein frostiger Reif lag es auf seinem Haupt, seinen Augenbrauen und um sein stoppeliges Kinn. Er trug seine niedrige Temperatur überall mit sich herum, er vereiste sein Kontor in den Hundstagen und erwärmte es um keinen Grad mehr an Weihnachten.
Äußere Wärme oder Kälte hatten wenig Einfluss auf Scrooge. Keine Hitze konnte ihn erwärmen, kein winterliches Wetter ihn zum Frösteln bringen. Kein Wind, der blies, war schneidender als er, kein Schneefall grimmiger auf sein Ziel bedacht, kein Regenguss unerbittlicher. Böses Wetter war ihm gegenüber machtlos. Der heftigste Schnee, Regen und Hagel konnten ihn nur in einer Hinsicht übertrumpfen: sie gaben oft reichlich, und das tat Scrooge nie.
Niemals hielt auf der Straße ihn jemand an, um freudigen Blickes zu sagen: »Mein lieber Scrooge, wie geht es Ihnen, wann werden Sie mich einmal besuchen?« Kein Bettler flehte ihn um eine kleine Gabe an, kein Kind fragte ihn, wie spät es sei, und in seinem ganzen Leben hatte ihn weder Mann noch Weib je nach dem Weg gefragt. Selbst die Hunde der Blinden schienen ihn zu kennen und zogen, wenn sie ihn kommen sahen, ihre Herren in einen Torweg oder Hof hinein und wedelten dabei mit dem Schwanz, als wollten sie sagen: ›Gar keine Augen zu haben, ist immer noch besser als böse, blinder Herr!‹
Doch was kümmerte das Scrooge? Ihm war es so gerade recht. Sich ganz allein an den von Menschen überlaufenen Lebenspfaden entlangzuwinden, alles menschliche Mitgefühl sich fernzuhalten, das war, wie die Leute wussten, durchaus nach seinem Geschmack.
Einst – es war von allen guten Tagen des Jahres gerade der Heilige Abend – saß der alte Scrooge über seiner Arbeit im Kontor. Es war bitterkaltes, beißendes Frostwetter und überdies neblig; er konnte hören, wie die Leute draußen auf dem Hof schnaubend auf und ab gingen und die Arme über die Brust schlugen und mit den Füßen das Pflaster stampften, um sich zu erwärmen. Die Uhren in der City hatten eben erst drei geschlagen, aber es war bereits ganz dunkel: Den ganzen Tag über war es nicht richtig hell geworden. Kerzenschein flackerte aus den Fenstern der benachbarten Kontore, rötliche Flecken in der zum Greifen dicken, braunen Luft. Durch jeden Spalt und jedes Schlüsselloch drang der Nebel herein, und draußen war er so dicht, dass die gegenüberliegenden Häuser, trotz der Enge des Hofes, wie Schemen erschienen. Wenn man die schmutzigen Wolken sich langsam heruntersenken und alles verdunkeln sah, konnte man meinen, Mutter Natur wohne dicht nebenan und braue sie dort im Großen.
Die Tür von Scrooges Kontor stand offen, damit er seinen Buchhalter beaufsichtigen konnte, der in einem öden kleinen Loch, einem Brunnenschacht ähnlich, saß und mit dem Abschreiben von Briefen beschäftigt war. Bei Scrooge brannte ein recht kleines Feuer, aber das Feuer bei dem Buchhalter war um so vieles kleiner, dass es nur wie eine einzige Kohle aussah. Doch er konnte nicht nachlegen, denn Scrooge bewahrte die Kohlenkiste in seinem Zimmer, und jedes Mal, wenn der Buchhalter mit der Schaufel hereinkam, sagte ihm sein Chef voraus, dass sie sich wohl bald würden trennen müssen. So band der Buchhalter sich seinen weißen Schal um und versuchte, sich an der Kerze zu erwärmen; in dieser Bemühung aber hatte er, als ein Mann von geringer Einbildungskraft, keinen Erfolg.
»Fröhliche Weihnachten, Onkel! Gott segne Sie!«, rief eine frohe Stimme. Es war die Stimme von Scrooges Neffen, der so rasch eingetreten war, dass dieser ihn erst jetzt bemerkte.
»Ach was!«, entgegnete Scrooge. »Dummes Zeug!«
Der Neffe war vom schnellen Laufen durch Nebel und Kälte so erhitzt, dass sein hübsches Gesicht glühte, seine Augen funkelten und sein Atem rauchte.
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