Es lag nicht in Scrooges Gewohnheit, Witze zu machen, noch fühlte er sich im Grund seines Herzens gerade jetzt dazu aufgelegt. In Wahrheit versuchte er nur schneidig zu tun, um sich selbst abzulenken und sein Entsetzen niederzuhalten, denn die Stimme des Geistes ließ ihn bis ins innerste Mark hinein erschauern.
Dazusitzen und schweigend auch nur einen Augenblick in diese starren verglasten Augen zu sehen, das, fühlte er, würde ihn von Sinnen bringen. Es lag auch etwas so Fürchterliches darin, dass das Gespenst in seine eigene, höllische Atmosphäre eingehüllt war. Scrooge selbst konnte diese zwar nicht spüren, doch es war ganz klar der Fall; denn obgleich der Geist vollkommen bewegungslos dasaß, so wurden doch seine Haare, seine Rockschöße, seine Troddeln wie durch den heißen Luftzug eines Backofens bewegt.
»Du siehst diesen Zahnstocher?«, fragte Scrooge, rasch aus dem eben erwähnten Grunde wieder zum Angriff übergehend, um – und wäre es nur für eine Sekunde – den steinernen Blick der Erscheinung von sich abzulenken.
»Ich sehe ihn«, antwortete der Geist.
»Aber du siehst ja nicht hin!«, sagte Scrooge.
»Ich sehe ihn dennoch!«, sagte der Geist.
»Nun also«, erwiderte Scrooge, »ich brauche ihn nur zu verschlucken, um für den Rest meines Lebens von einer Legion von Kobolden, die ich selbst mir geschaffen habe, verfolgt zu werden. Schwindel, sag ich dir – alles Schwindel!«
Auf diese Worte hin stieß der Geist einen so furchtbaren Schrei aus und schüttelte seine Ketten mit solch einem entsetzlichen, grauenerregenden Getöse, dass Scrooge sich fest an seinen Stuhl klammerte, um nicht herunter und in Ohnmacht zu fallen. Doch um wie viel größer noch wurde sein Entsetzen, als das Gespenst die Binde, die es um den Kopf trug, abnahm, als wäre sie ihm hier zu heiß, und seine Kinnlade ihm nun auf die Brust herabklappte.
Scrooge fiel auf die Knie und schlug die Hände vors Gesicht. »Gnade!«, rief er, »furchtbare Erscheinung, warum verfolgst du mich?«
»Du weltlich gesinnter Mensch«, erwiderte der Geist, »glaubst du an mich oder nicht?«
»Ich glaube an dich«, sagte Scrooge, »ich muss es ja! Aber warum gehen Geister auf Erden um, und warum kommen sie zu mir?«
»Von jedermann wird verlangt«, entgegnete der Geist, »dass seine Seele mit seinen Mitmenschen wandle weit und breit und teilnehme an ihnen; und wenn sie dies zu Lebzeiten nicht tut, so ist sie nach dem Tode dazu verdammt. Sie ist dazu verurteilt, durch die Welt zu wandern und zuzusehen – oh, weh mir! –, wo sie nicht mehr helfen kann, doch hätte helfen können und Glück bringen, als sie noch auf Erden war.«
Wiederum stieß das Gespenst einen Schrei aus, schüttelte seine Ketten und rang seine geisterhaften Hände.
»Du bist gefesselt«, sagte Scrooge zitternd, »sag mir, warum?«
»Ich trage die Kette, die ich mir im Leben geschmiedet habe«, antwortete der Geist, »Glied um Glied und Elle um Elle habe ich sie gemacht. Freiwillig habe ich sie um mich geschlungen, und aus freiem Willen habe ich sie getragen. Erscheint sie dir fremd?«
Scrooge erzitterte mehr und mehr.
»Oder willst du wissen«, fuhr der Geist fort, »wie schwer und lang die Fessel ist, die du selber trägst? Sie war vor sieben Weihnachten genauso schwer und lang wie diese hier. Du hast seitdem weiter an ihr gearbeitet. Es ist eine gewichtige Kette!«
Scrooge schielte auf den Boden hinunter, in der Erwartung, sich von einem fünfzig oder sechzig Faden langen Eisenkabel umgeben zu sehen, doch er konnte nichts erblicken.
»Jacob«, sagte er flehentlich, »alter Jacob Marley, erzähl mir mehr. Sprich mir Trost zu, Jacob!«
»Ich habe keinen zu vergeben«, antwortete der Geist, »der kommt aus andern Regionen, Ebenezer Scrooge, und wird von andern Boten überbracht und an eine andere Art von Menschen. Auch darf ich dir nicht sagen, was ich möchte. Nur ein Weniges noch ist mir erlaubt. Ich kann nicht rasten und nicht ruhen und kann nirgends verweilen. Mein Geist ging niemals hinaus über unser Kontor – merk wohl auf! –, im Leben schweifte meine Seele niemals über die engen Grenzen unserer Schacherhöhle hinaus; und mühselige Wanderungen liegen nun vor mir.«
Scrooge hatte die Gewohnheit, wenn er nachdenklich wurde, die Hände in die Hosentaschen zu stecken. Dem nachgrübelnd, was der Geist gesagt hatte, tat er dies auch jetzt, doch ohne aufzublicken oder sich von den Knien zu erheben.
»Da musst du aber schon lange dahinterher sein«, bemerkte Scrooge geschäftsmäßig, wenn auch voll bescheidener Ehrerbietung.
»Eine lange Zeit«, sagte der Geist.
»Sieben Jahre tot, und die ganze Zeit auf Reisen«, grübelte Scrooge.
»Die ganze Zeit über«, sagte der Geist, »keine Rast, keinen Frieden. Unaufhörliche Qualen der Reue.«
»Wanderst du schnell?«, fragte Scrooge.
»Auf den Flügeln des Windes«, antwortete der Geist.
»Da kannst du ja große Strecken Landes hinter dich gebracht haben in diesen sieben Jahren«, meinte Scrooge.
Als der Geist diese Worte hörte, stieß er wieder einen Schrei aus und klirrte mit seinen Ketten so schauerlich in der Totenstille der Nacht, dass die Polizei ihn mit Recht wegen groben Unfugs hätte belangen können.
»Oh, gefangen, gefesselt und zweifach in Eisen geschlossen«, schrie das Gespenst, »oh, und nicht gewusst zu haben, dass noch lange Zeiten ununterbrochener Bemühungen unsterblicher Wesen vergehen müssen, ehe all das Gute, das auf Erden möglich ist, sich entfalten kann. Oh, nicht gewusst zu haben, dass jeder christlich Gesinnte, der liebreich in seinem kleinen Kreise wirkt, was immer es sei, das irdische Dasein zu kurz finden wird, gegenüber den weiten Möglichkeiten, Gutes zu tun. Oh, nicht gewusst zu haben, dass keine noch so bittere Reue die ungenützten Gelegenheiten eines Lebens wiedergutmachen kann. Aber so ging es mir! Oh ja, so war ich!«
»Aber du warst doch immer ein guter Geschäftsmann, Jacob«, stammelte Scrooge, der nun anfing, all dieses auf sich zu beziehen.
»Geschäft!«, schrie der Geist und rang wiederum die Hände. »Die Menschlichkeit hätte mein Geschäft sein sollen. Das allgemeine Wohl, Nächstenliebe, Barmherzigkeit, Nachsicht und Gutes tun, das alles hätte mein Geschäft sein sollen. Meine Tätigkeit als Kaufmann hätte nur ein Tropfen in dem Meer meiner Geschäfte sein sollen!«
Er hob seine Kette von sich weg, so weit sein Arm reichte, als wäre sie die Ursache seines fruchtlosen Kummers, und dann schmetterte er sie wieder zu Boden.
»In dieser Zeit des dahinschwindenden Jahres«, sagte das Gespenst, »habe ich am meisten zu leiden. Warum ging ich mit zu Boden gesenktem Blick durch die Schar meiner Mitmenschen und erhob ihn nie zu dem gesegneten Stern, der die Weisen zu einer armen Hütte leitete? Gab es denn keine armen Hütten, zu denen er mich hätte führen können?«
Mit Entsetzen hörte Scrooge das Gespenst in dieser Weise fortfahren, und er zitterte immer heftiger.
»Höre mich an!«, rief der Geist, »meine Zeit ist bald um.«
»Ich höre«, sagte Scrooge, »aber sei nicht zu hart mit mir, mach nicht mehr Umschweife als nötig, Jacob. Ich bitte dich!«
»Wie es kommt, dass ich in sichtbarer Gestalt vor dir erscheine, das darf ich dir nicht sagen. Manchen und manchen Tag habe ich unsichtbar dir zur Seite gesessen.«
Dies war kein angenehmer Gedanke – Scrooge erschauerte und wischte sich den Schweiß von der Stirne.
»Und dies ist kein leichter Teil meiner Buße«, fuhr der Geist fort. »Heute Nacht bin ich hier, um dich zu warnen, noch hast du die Hoffnung, die Möglichkeit, meinem Schicksal zu entgehen. Eine Möglichkeit, eine Hoffnung, die ich dir verschaffe, Ebenezer!«
»Du warst mir stets ein guter Freund«, sagte Scrooge, »ich danke dir!«
»Drei Geister«, fuhr das Gespenst fort, »werden dich noch heimsuchen!«
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