Marie Louise Fischer
SAGA Egmont
Im Schwindeln eine Eins
Genehmigte eBook Ausgabe für Lindhardt og Ringhof Forlag A/S
Copyright © 2017 by Erbengemeinschaft Fischer-Kernmayr, (www.marielouisefischer.de)
represented by AVA international GmbH, Germany (www.ava-international.de)
Originally published 1960 by F. Schneider, Germany
All rights reserved
ISBN: 9788711719442
1. Ebook-Auflage, 2017
Format: EPUB 3.0
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Die Sonne kletterte gerade erst über die Hausdächer in der großen Stadt, als Tessie erwachte. Ihr kleines Zimmer in der Barerstraße war noch voller Schatten und das zarte Blau des Himmels fast farblos.
Mit einem Ruck fuhr sie hoch. Ihr erster Gedanke war: Ferien! – Dann begriff sie, daß sie sich geirrt hatte. Es war ein ganz gewöhnlicher Samstag im Juni, nicht einmal ein Feiertag. Auf ihrer Armbanduhr, die auf dem Nachttisch lag, war es gerade erst sechs Uhr vorbei. Weshalb war sie dann so früh aufgewacht?
Eine Weile grübelte Tessie über dieses Problem, ohne eine Lösung zu finden. Dann sprang sie mit beiden Beinen aus dem Bett, lief zum Fenster und stieß beide Flügel weit auf.
Tobrucks wohnten im obersten Stockwerk eines großen modernen Mietshauses. Von hier oben kamen Tessie die Menschen und Fahrzeuge auf der Straße vor wie Spielzeug.
Während Tessie hinunterschaute, dachte sie nach. Diese frühe Morgenstunde, die ihr sozusagen als ein Geschenk des Himmels zugefallen war, mußte ausgenutzt werden. Vater und Mutter und die große Schwester Ruth schliefen bestimmt noch. Was sollte sie anfangen?
Ihr fiel ein, daß die Mutter gestern wunderschönes abwaschbares Schrankpapier mitgebracht hatte. Das hatte sie sofort gereizt. Jetzt war die Gelegenheit, sich eine Rolle anzueignen. Barfuß und auf Zehenspitzen huschte Tessie ir die Küche, öffnete sachte die untere Schiebetür des Küchenschrankes, schnappte sich eine der Rollen, rannte aus der Küche, dann noch einmal zurück, weil sie vergessen hatte, die Tür zuzuschieben. Dann lief sie ins Badezimmer, holte die große Schere aus dem Apothekerschrank und kehrte in ihr Zimmer zurück. Vorsichtshalber schloß sie die Tür hinter sich ab.
Das Schrankpapier war tatsächlich noch hübscher, als sie es sich vorgestellt hatte; es waren zierliche bunte Figürchen darauf, Bauern, Bäuerinnen und Kinder, Pferdefuhrwerke, Bauernhäuser, Kühe, Kälber, Schweine und kleine Baumgruppen. Tessies Bücher und Hefte hatten es seit langem nötig, neu eingebunden zu werden. Die ganze Klasse würde staunen, und besonders ihr Klassenlehrer, Dr. Hiltermann, würde Augen machen.
Tessie ging an die Arbeit. Sie nahm zuerst ihr Mathematikbuch, legte es aufgeschlagen auf das Papier und schnitt ein großes Stück heraus, von dem sie annahm, daß es passen mußte. Sie begann das Buch einzuschlagen. Aber sie hatte das Papier zu knapp gemessen. Als sie das Buch zumachen wollte, spannte es. Tessie löste den Umschlag, machte neue Knicke – jetzt paßte das Papier, aber auf Vorder- und Rückseite waren häßliche Kniffe. Nein, so ging das nicht; immerhin konnte sie mit diesem kleinen Stück Papier ihr Vokabelheft einbinden. Wo war es? Sicher in ein anderes Buch gerutscht. Na – wenn schon!
Tessie arbeitete mit glühenden Wangen, aber irgendwie war alles wie verhext. Keiner der Umschläge wurde so, wie sie es sich vorgestellt hatte. Der eine wurde schief, bei dem anderen riß ihr etwas ein, der dritte bekam Falten, und als die Mutter gegen die Tür klopfte und rief: „Tessie! Aufstehen!“, war sie immer noch nicht fertig. Sie wollte nicht nachgeben. Wenigstens das Mathematikbuch sollte einen schönen Umschlag bekommen. Sie versuchte es noch einmal mit dem letzten Stück, das ihr übriggeblieben war. Aber sie hatte schon die Geduld verloren – der Umschlag wurde schlechter als alle anderen.
Jetzt wurde an der Türklinke gerüttelt. „Tessie! Aufstehen!“ donnerte der Vater. „Was fällt dir ein, dich einzuschließen?“
Tessie imitierte ein Gähnen und sagte: „Hauuuuuah … ich bin ja schon wach!“
„Das Kind wird wieder zu spät in die Schule kommen!“ hörte sie die Stimme ihrer Mutter.
„Dann laß sie doch“, erklärte ihre Schwester Ruth spitz, „aus Schaden wird man klug.“
„Biest!“ murmelte Tessie. Sie runzelte die Stirn und betrachtete unzufrieden ihr Werk. Nein, diese Umschläge sahen nicht so aus, daß man mit ihnen Staat machen konnte. Entschlossen riß sie alle wieder von den Büchern ab, zerknüllte sie und warf sie in den Papierkorb. Dann hob sie die verblichenen, an den Ecken durchgestoßenen alten Umschläge einen nach dem anderen wieder vom Fußboden auf und schob die Bücher und Hefte hinein. Es klappte in der Eile nicht ganz, sie verwechselte das Erdkundebuch mit dem Lesebuch, das Mathematikbuch geriet verkehrt in den Umschlag – aber nun war sie wenigstens fertig. Sie Warf einen Blick auf den Stundenplan, stopfte die Bücher und Hefte, die sie heute brauchen würde, in die Mappe.
Wieder pochte die Mutter gegen die Tür: „Tessie! Wenn du jetzt nicht sofort aufstehst, kommst du zu spät!“
„Ich bin doch schon auf, Mammi!“ gab sie harmlos zurück. Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr, bevor sie sie umband. Schon halb acht vorbei! Verflixt und zugenäht, sie würde wahrhaftig zu spät kommen! Fürs Waschen blieb keine Zeit mehr. In Sekundenschnelle schlüpfte sie in Hemd und Höschen, zog sich ihr blaues Leinenkleid über, das, wie fast alle ihre Sachen, aus der abgelegten Garderobe ihrer großen Schwester geschneidert worden war. Sie bürstete und kämmte ihr goldbraunes lockiges Haar wie eine Wilde, bändigte es in zwei dicke abstehende Zöpfe, schlüpfte in die Pantoffelschuhe, dann war sie fertig.
Mit einem Aufatmen ergriff sie ihre Schulmappe und wollte aus dem Zimmer stürzen, dabei fiel ihr Blick auf den Papierkorb. Fast hätte sie vergessen, die Überreste ihrer morgendlichen Tätigkeit zu verbergen. Sie knüllte das verschandelte Schrankpapier zusammen und stopfte es in die Schulmappe, sah mit Schrecken, daß überall auf dem Boden noch kleine Papierschnitzel lagen, kroch auf allen vieren herum und gab sich erst zufrieden, als auch der letzte Fetzen in ihrer Schulmappe verschwunden war.
Die übrige Familie saß schon längst auf der Dachterrasse beim Frühstück. Tessie steckte nur schnell den Kopf hinaus und rief: „Auf Wiedersehen! Bis heute mittag!“
„Tessie – willst du denn nicht wenigstens einen Schluck trinken?“
„Danke, Mammi, keine Zeit!“ schrie Tessie und war schon aus der Wohnung.
Herr Tobruck legte seine Serviette zusammen. „So was Dummes“, sagte er, „ich hätte sie doch mit dem Wagen zur Schule bringen können.“
„Du bist viel zu gutmütig, Vater“, erklärte Ruth. „Aus Tessie kann nie etwas werden, wenn du ihre Faulheit noch unterstützt.“
„Na, na“, sagte Herr Tobruck lächelnd, „ich erinnere mich, daß vor Jahren ein kleines Mädchen namens Ruth …“
„So wie Tessie bin ich nie gewesen!“ behauptete Ruth empört.
„Das stimmt!“ ergriff Frau Tobruck sofort die Partei ihrer großen Tochter. „So schlimm wie Tessie war Ruth nie. Ich möchte wirklich wissen, was aus dem Kind noch werden soll.“
Herr Tobruck hatte keine Lust, sich am frühen Morgen wegen Tessie zu zanken. „Wartet es ab“, sagte er gutmütig, „es wird sich herausstellen.“ Er stand auf. „Bist du fertig, Ruth?“
„Natürlich, Vater. Ich möchte nur eben noch mal in den Spiegel schauen!“
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