Macht und Ehre, Stolz, Größe und Gewalt sind Vokabeln aus dem Wortschatz der Nationalisten, die leider für viele heute verständlicher sind als Worte wie Höflichkeit, Verantwortung, Lernen, Respekt, Solidarität und Empathie. Aber genau sie müssen wir für ein neues Selbstbild der pluralen Gesellschaft und zivilen Nation zurückerobern, wenn wir den europäischen Traum retten und nicht noch einmal in einem Albtraum enden lassen wollen. Wir sind Rechtsstaat, genauer: noch sind wir Rechtsstaat!
1Joseph Addison, The Spectator Nr. 69 (1710), in: ed. Donald F. Bond, Oxford 1965, 238.
2„Die einzige Gefahr liegt in einem Embargo. Auflagen und Restriktionen führen zu einer Ebbe. Es gibt nichts Vorteilhafteres als einen freien Hafen.“ Anthony Ashley Cooper, Third Earl of Shaftesbury, An Essay on Wit and Humour (1709) in: Characteristics of Men, manners, opinions, times, ed. John M. Robertson, Indianapolis 1964, 45 f. (Weitere Textverweise unter WH).
3Ulrich Beck, Hg., Perspektiven der Weltgesellschaft, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1998, 7.
4Beck, Perspektiven, 9.
5Richard Sennett, Respect in a World of Inequality, Allen Lane, London 2003.
6Begriffe wie Multikulturalismus und Relativismus.
7Jeremy Rifkin, The Empathic Society 2008.
8Autobiographie des Scheschi, s. J. Assmann, Ma’at , 100.
9 https://de.wikipedia.org/wiki/Obelisk_(Olu_Oguibe).
10Carolin Emcke, Gegen den Hass, S. Fischer 2016, 211.
11Hennig kommentiert: „Es wird immer Neues geben. Wichtig ist aber die Einbeziehung ‚alter‘ gewonnener Erfahrungen und Erkenntnisse.“ Es geht in der Schule also nicht nur um die Einzelnen mit ihren individuellen Interessen. Wichtig ist unbedingt auch das Milieu des Lernens und die förderliche Weitergabe von Wissen und Praktiken, die den Gemeinsinn fördern und dem sozialen Zusammenhalt dienen.
12Am 1. Oktober 2015 empfing Katrin Hattenhauer von Präsident Joachim Gauck das Bundesverdienstkreuz.
Foto: privat
Jahrgang 1938 in Langelsheim, Studium der Ägyptologie, Gräzistik und Klass. Archäologie, 1976 – 2003 Professor für Ägyptologie an der Universität Heidelberg, seit 2005 Hon. Prof. für Kulturwissenschaft und Religionstheorie an der Universität Konstanz. Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2018 zusammen mit Aleida Assmann. Letzte Publikation: „Achsenzeit. Eine Archäologie der Moderne“ (2018). Wohnhaft in Konstanz.
Wahr ist, was uns verbindet
Das Konzept „Achsenzeit“, ein Ansatz kultureller Toleranz.
Der traditionelle Eurozentrismus, der bis heute in manchen wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Formen des Umgangs mit außereuropäischen Kulturen wirksam ist, ist mit kultureller Intoleranz verbunden, die sich aus einem europäischen Überlegenheitsgefühl speist und nur sieht, was den anderen fehlt anstatt was uns mit ihnen verbindet. Den entschiedensten Protest gegen diese europäische Überheblichkeit hat im 18. Jahrhundert der Indologe und Iranist Anquetil-Duperron vorgetragen. Er wies nach, dass sich die geistige Revolution, die sich im 6. und 5. vorchristlichen Jahrhundert im Westen ereignete und die geistigen Fundamente Europas legte, gleichzeitig und in ganz entsprechender Richtung in Persien, Indien und China ereignet hat. In seinen Augen handelte es sich hier um eine Revolution der gesamten Menschheitsgeschichte. 1
Die wichtigste Folgerung, die Anquetil aus seiner Beobachtung dieser Gleichzeitigkeit zog, war seine These von der grundsätzlichen Gleichwertigkeit aller Kulturen, die er in seinem zweiten Buch Législation Orientale (Orientalische Gesetzgebung) entwickelte. 2Hier vertrat Anquetil einen kosmopolitischen Egalitarismus 3und erwies sich als eingeschworener Gegner von Eurozentrismus, Sklavenhandel und Kolonialismus 4. Für ihn gab es keine Hierarchie unter den Kulturen und nicht die geringste Rechtfertigung für den europäischen Anspruch, andere Völker und Stämme als unzivilisiert und als Objekt von Eroberung, Kolonialisierung und Ausbeutung zu betrachten. Er forderte eine Entflechtung von Handel, Politik und Forschung und die Einrichtung einer „reisenden Akademie“, d. h. von wissenschaftlichen Auslandsinstituten, wie sie dann im 19. Jahrhundert von den größeren Nationen tatsächlich gegründet wurden, auch wenn diese Forschungen dann nicht unbedingt auf Augenhöhe mit den erforschten Kulturen und ganz unabhängig von kolonialistischen Interessen stattfanden.
Für ihn war Europa nur der westliche Teilnehmer an einem großräumigen Ereignis, dessen andere Vertreter – Zarathustra und Konfuzius – in ihrem eigenen kulturellen Kontext betrachtet und keineswegs nach europäischen Maßstäben beurteilt wurden, um ihnen dann aufgrund dieser Maßstäbe Gleichrangigkeit mit Europa, d. h. abendländischer Philosophie zu bescheinigen. Anquetils Begriff von Gleichrangigkeit war weiter und offener als spätere Vertreter seiner Theorie, offen für die Anerkennung von Überlegenheit in Punkten, in denen Europa zurückblieb oder falsche Wege ging.
180 Jahre später, nachdem Anquetils Beobachtung einer globalen geistigen Wende um 500 v. Chr., an der Europa nur teilhatte anstatt sie hervorgebracht zu haben, durch viele kritische und bestätigende Stellungnahmen hindurchgegangen ist, die Anquetils Dreigestirn „Pherekydes, Zarathustra, Konfuzius“ um viele andere Namen wie Laotse, Buddha, Jesaja und andere Propheten, Parmenides, Pythagoras und Platon erweitert haben, brachte Karl Jaspers in seinem Buch Vom Ursprung und Ziel der Geschichte Anquetils These auf den glücklichen Begriff der „Achsenzeit“. Er fokussierte nun ganz entschieden auf das Verbindende anstatt auf die Differenzen. Sein Leitspruch war: „Wahr ist, was uns verbindet“. 5Für Jaspers war Wahrheit die Grundlage menschlichen Zusammenlebens überhaupt. Sein Buch Vom Ursprung und Ziel der Geschichte , in dem dieser Satz steht, war aus der Erfahrung der NS-Zeit entstanden, in der in Deutschland die Lüge herrschte und die ganze Welt mit Zwietracht, Krieg, Mord und Zerstörung überzog. Hitler hatte alle auf Wahrheit und Vertrauen beruhenden Brücken zwischen den Ländern Europas und der Welt zerstört.
Jaspers gehörte zu denen, die auf den Trümmern des alten Europas die Vision eines neuen Europas entwickelten. Dazu gehörte für ihn an erster Stelle – ganz im Sinne von Anquetil, den er nicht kannte – die Überwindung europäischer Überheblichkeit gegenüber anderen Ländern und Kulturen. Er wollte die exklusive und destruktive Vormachtstellung Europas in der Welt beenden und hat Europa in eine globale Vision von Menschheit eingebunden, die als Gesamtheit um 500 v. Chr. „einen Sprung gemacht hat“. 6Das ist der Kern seiner Idee der ‚Achsenzeit‘, einer neuen Geschichtsdeutung, die Europa auf Augenhöhe mit anderen Hochkulturen bringen sollte.
Auch er zählte noch einmal die Geistesgrößen auf, die um 500 v. Chr. (er erweiterte dieses Zeitfenster um plus/minus 300 Jahre) in vielen Kulturen auftraten und deren Worte und Gedanken die Nachwelt bis heute prägen. In Griechenland waren es Dichter und Denker wie Homer und Platon, in Israel die Propheten, in Persien Zarathustra, in Indien Buddha und in China Laotse und Konfuzius. Mit ihren Texten haben sie ein ‚Geisterreich‘ gegründet, in welchem sie, um es mit Hannah Arendt zu sagen, „noch einmal als sprechende – aus dem Totenreich her sprechende – Personen auftreten, die, weil sie dem Zeitlichen entronnen sind, zu immerwährenden Raumgenossen im Geistigen werden“ konnten. 7
Europa lebte, intensiver vielleicht als andere Kontinente, in diesem vielstimmigen Geisterreich. Erstens gründete es auf zwei grundverschiedenen kulturellen Pfeilern: zum einen auf dem „klassischen“ Altertum, der griechisch-römischen Kultur, die in Philosophie, Literatur und Architektur lebendig war, und zweitens auf der Bibel, die das Abendland als „christliches“ determinierte. Überdies blickten diese beiden Altertümer, das klassische und das biblische, noch einmal auf ein um zwei- bis dreitausend Jahre älteres Altertum zurück, von dem sie sich einerseits polemisch absetzten wie Israel und andererseits wie Griechenland und Rom fasziniert inspirieren ließen.
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