Ich will hier keine Predigt halten. Aber es ist aus meiner Sicht dringend erforderlich, sich nicht auf Konfessionen zu fixieren. Es kommt auch darauf an, das unter dem religiösen Bewusstsein liegende materielle Geschehen mit in den Blick zu nehmen. Denn so falsch ist das Marx’sche Diktum, wonach das Sein das Bewusstsein bestimme, nicht.
Wir haben Armut in unserem Land. Viele der Armen sind migrantischer Herkunft. Kindern aus Arbeiterfamilien und migrantischen Familien ist der soziale Aufstieg, der heute fast nur noch als Bildungsaufstieg organisierbar ist, vielfach versagt. Es ist eben nicht selbstverständlich, dass Kinder unterschiedlicher Herkunft miteinander dieselbe Schule besuchen, mit- und voneinander lernen. Die Tendenz zur sozialen Trennung ist da.
Die Idee einer emanzipierten Gesellschaft ist noch nicht abgegolten. Dabei geht es nicht darum, Unterschiede einzuebnen. Es geht darum, dass entlang von Unterschieden – sei es Klasse, sei es Geschlecht, seien es Herkunftsmerkmale, seien es religiöse Unterschiede – keine Unterdrückung und Diskriminierung mehr stattfindet. An dieser Gesellschaft ist zu arbeiten, um zu verhindern, dass aus Unterschieden Hass wird.
Foto: Thomas Joussen
Jahrgang 1969, lebt als Schriftstellerin in Essen. Sie schreibt, spricht, reimt und reist und verbindet dabei Poesie, Spiritualität und Menschenrechtsfragen. Gemeinsam mit dem Pianisten Ben Seipel bildet sie das Duo 2Flügel. Sie liebt: Indien, Südafrika und das Ruhrgebiet, wo sie in einer Kommunität lebt.
Toleranz, Hauptwort, feminin (die)
Die Toleranz war der Grund, warum ich in der Schule Latein lernte. Mein Vater wünschte es sich sehr und meinte, mit Latein könne ich mir viele Wörter erklären. Eben Toleranz zum Beispiel. Er machte es mir vor: „Toleranz kommt von ‚tolerare‘: tragen, ertragen, aushalten, jemanden oder etwas erdulden.“ Er hat mich damals gewonnen, ich lernte Latein. Und denke bei Toleranz zuallererst an Sprache, an Worte und ihre Wurzeln und ans Lernen.
Die Sprache ist meine liebste Beschäftigung. Mir das Leben zusammenzureimen, erlebe ich als meine tägliche Aufgabe. Ich schätze eine Sprache, die wahrhaftig spricht, zuhört, sich verständlich macht und versteht. Die lebendig ist, sich verändern kann und gleichzeitig eine gewisse Beharrlichkeit zeigt. Die ein Gegenüber erreicht. Die über-setzt, zum anderen, zur Fremden, zu den Nächsten. Eine Sprache, die demokratisch ist und Gleichwürdigkeit spiegelt. Die willkommen heißt.
Zu sprechen macht uns menschlich. Zu dichten und zu singen. Zu erzählen! Kleine, alltägliche und große Geschichten. Vom Regenguss, in den wir plötzlich kamen, und vom Krieg. Vom Kirschbaum im Garten und von der Geburt eines Kindes. Vom Fußballspiel am Sonntagnachmittag und von der Flucht aus Masuren und aus Syrien. Vom Heiratsantrag und von der Idee Europas. Erzählen wärmt uns. Die großen Erzählungen verbinden uns miteinander. Sie beschreiben die Liebe, den Tod, Leiden, Herkunft, Krisen, Zusammenhalt, Sinn. Wir finden uns in ihnen wieder und sie überwinden gleichzeitig die Selbstbezogenheit. Sie schaffen es, vom Ich zum Du zu gehen. Von der eigenen Erfahrung und Lebenspraxis in die Welt und Perspektive einer anderen Person. Sie bitten uns, dem Menschen, der vor uns steht, gerecht zu werden, der uns fragt: „Wirst du freundlich sein zu mir? Wirst du das Heilige in mir achten? Auch wenn ich dir fremd bin?“
Eine Sprache ohne Toleranz ist kalt, hart, knapp, spitz. Sie ist unerbittlich und verletzt. So erleben es viele zurzeit: Die Sprache ist kälter geworden. Und mit ihr – ja tatsächlich – die ganze Welt. Ich persönlich erfahre es so in Briefen, Mails, Kommentaren. Die Sprache ist brutaler geworden und mit ihr die Zeit, in der wir leben. Weil sie vereinfacht mit Schwarz und Weiß, sich nicht die Mühe gibt, genau zu sein mit Anthrazit, Silber, Asch- und Mausgrau. Sie ist grob. Sie spart sich Zwischentöne, Minderheiten und Ausnahmen von der Regel. Sie schließt aus mit ihrer Unachtsamkeit und entwürdigt so einzelne Menschen und ganze Gruppen. Wir erleben, dass die Sprache ein gefährliches, wirkungsvolles Instrument einer großen Normverschiebung ist. Sie spricht fließend rassistisch, antisemitisch, frauenverachtend, islamfeindlich, homophob. Sie vergiftet die Atmosphäre. Ganz alltäglich. Selbstredend. Die Konzepte hinter der achtlosen Sprache sind alle menschenverachtend. Dass die Sprache aggressiv geworden ist, zeigt, dass die Gesellschaft, die Verhältnisse aggressiver geworden sind.
Die Sprache, die erzählt, verleiht ein Gesicht. Würdigt. Macht aus Massen Personen. Sie sieht genauer hin und schafft Ansehen. Sie sieht zum Beispiel nicht eine „Flüchtlingswelle“, sondern einzelne Menschen. Einen Großvater, eine Nachbarin, einen Sohn, eine Freundin. Sie weiß noch: Alle Menschen sind Kinder. Alle haben eine Mutter und einen Vater. Alle haben Geburtstag. Haben Würde und Wünsche und Rechte. Wollen sich frei bewegen. Jeder Mensch hat einen Namen. Für Menschenrechte musst Du Dich nicht qualifizieren.
Die Sprache, die tolerant ist, liebt Familie Mensch. Sie teilt nicht aus und nicht ein. Wie in dieser kleinen Geschichte, die mir eine Zehnjährige erzählte: „In meiner Schulklasse ist ein Mädchen, das ganz dunkle Haut hat. Ich weiß, dass schwarze Menschen oft schlimm beleidigt wurden, dass ihre Hautfarbe sogar gefährlich für sie war. Und darum wusste ich nicht, was ich sagen sollte, als ich zu Hause von ihr erzählte.“ Sie hat Tränen in den Augen. „Ich habe das Mädchen dann direkt gefragt. ‚Du‘, habe ich gesagt, ‚wie soll ich dich denn nennen? Schwarz oder farbig oder dunkel?‘ Und sie hat mich angelacht, so super süß, und meinte: ‚Sag doch einfach Claire zu mir.‘ Und jetzt sind wir Freundinnen.“
Die erzählende Sprache würdigt zwei Arten von Erinnerung: Wir erinnern uns einzigartig an persönliche Erlebnisse. Und zweitens an Ereignisse, die wir nicht selbst erlebt haben. Wir erinnern uns an Geschichten, die uns passiert sind, und solche, die uns erzählt wurden. Die Sprache, die würdigt, schätzt Errungenschaft in Worten, Texten, Erzählungen. Sie weiß: Uns verbinden Sätze. Grundätze. Was sich bewährt hat. Was bewahrt wurde. Was uns bewahrt – vor Verzweiflung, Zynismus, Rache und Gewalt. Zu sprechen macht uns einmalig und verbindet uns. In einer Ideengeschichte, Kultur, Erzählgemeinschaft. Tradition. Mit gemeinsamen Verabredungen, politischen Regeln und Normen. Sie weiterzuerzählen und immer wieder neu auszulegen, ist die schöne Aufgabe der Sprache.
Wie neulich in der Oper. Ich besuche sie nicht so oft. Aber ich mochte „Nabucco“ sofort. Ein Beispiel für eine Erzählung, die große menschliche Krisen, Gefühle und Fragen berührt. Machtstreben, Hass, Nötigung. Und: Überwinden, Wiederfinden, Heilwerden. Die Weisheit solcher Erzählstoffe hält uns beweglich und damit, ja, inspiriert sie uns zur Toleranz. Denn sie zeigt uns das Menschliche, das in uns allen steckt; Schönheit, Abgründe, Schwäche und Stärke.
Der Lateinunterricht in der Schule war eine Mischung aus Geschichte, Philosophie und Rätselraten. Der Kurs nach dem Latinum fand in einer seltenen Atmosphäre von Saumseligkeit statt. Ich mochte den Kurs und den Lehrer. Sie alle passten zu meiner Urmotivation, die Wurzel der Toleranz aufzuspüren. Das Lernen dieser alten Sprache brauchte Geduld, verbunden mit Ausdauer und Gewaltlosigkeit. Heute spielt Latein kaum noch eine Rolle in meinem Leben. Ein katholischer Freund, der immer mal wieder im Vatikan zu Gast ist, erzählte mir von den dortigen Bemühungen, moderne Worte ins Lateinische zu übersetzen. Er schrieb es mir in einer E-Mail, einer „litterae electronicae“.
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