Wir haben es hier also nicht nur mit einem Denkmal zu tun, sondern obendrein mit einem ‚Dank-mal‘. Gleichzeitig ist der Obelisk aber auch ein Symbol für den Fremden, er ist selbst ein Fremdkörper, der die Gemüter erregt, erhitzte Debatten auslöst und aus dem öffentlichen Raum entfernt werden muss. Kunstwerke sind symbolische Objekte und Stellvertreter; sie haben die Kraft, etwas sinnlich sichtbar zu machen, was sich unsichtbar in der Gesellschaft abspielt. An Oguibes Obelisken wurde symbolisch ausagiert und vollzogen, worum es in der Debatte geht: um Integration oder Ausgrenzung, um Diversität und Teilhabe oder Abschottung in einer homogenen Gemeinschaft. Alles, was mit dem Obelisken zusammenhing, war symbolisch, einschließlich seines Abbaus. Das Loch, das im Boden zurückblieb, wurde umgehend als eine ‚Wunde‘ wahrgenommen; es lagen Blumen an dieser Stelle als Zeichen der Trauer und Empathie.
Genau dafür sind Kunstwerke da: Sie können die unterschiedlichen ausgesprochenen und unausgesprochenen Gefühle in einer Gesellschaft an die Oberfläche bringen, indem sie ihnen eine konkrete Gestalt geben und damit sichtbar und hörbar machen. Sie verhelfen ihnen obendrein zu einer Geschichte, die den Konflikt formt, indem sie Worte, Gefühle, Stellungnahmen und Handlungen provozieren. In Kassel sind manche der Meinung, dass das umstrittene ‚Flucht-und-Migrationsdenkmal‘ die lebendigste und interessanteste Debatte seit den Aktionen von Josef Beuys ausgelöst hat.
Die Ebene des Klassenzimmers
„Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört!“ Mit diesen bekannten Worten hat Willy Brandt den Mauerfall kommentiert. Nach dem Höhepunkt der Migrationsbewegung könnte der Satz heißen: „Jetzt wächst zusammen, was nicht zusammengehört!“ Dieser Satz von Ulrich Beck aus dem Jahre 1998 hatte prophetischen Charakter. Diese Entwicklung hält an und nirgends ist sie so sichtbar und fühlbar wie in den Städten. Deshalb ist es wichtig, die Städte im Auge zu behalten, denn hier konkretisieren sich die komplexen Probleme der Einwanderung und Integration, und dabei sowohl das Engagement wie die Blockierung, sowohl die Fortschritte wie die Provokationen.
Je mehr wir den Raum einschränken, über den wir sprechen, desto offener treten die Probleme zutage, mit denen wir es zu tun haben. Kindergärten und Schulen sind heute der Ort, wo unterschiedliche kulturelle Identitäten, Herkünfte und Biografien aufeinandertreffen. Diese Gegensätze dramatisieren sich mit der Zunahme des Anteils von Neudeutschen. Hier gibt es eine Verkoppelung zwischen der globalen und der lokalen Ebene im Klassenzimmer, gestützt durch die Parallelwelt des Internets, die ja nicht nur geografische Schranken überwindet, sondern auch zur Enthemmung in der Kommunikation und zur Kopie von Mustern der Gewalt beiträgt – man denke nur an die neue Achse zwischen Halle und Christchurch, Neuseeland!
Das Problem der Einhegung von Kultur und Kommunikation ist immer schwieriger geworden; nach egoistischen Impulsen, die es immer gab, setzen sich jetzt zunehmend anti-soziale und aggressive Verhaltensstile durch, die inzwischen von einem Teil der Bevölkerung toleriert und womöglich bewundert werden.
Hier stellt sich die Frage nach dem Abc des Menschenanstands mit besonderem Nachdruck. Gibt es Möglichkeiten, Hass und Verachtung einzudämmen und die aktuelle Spaltung in der Gesellschaft wieder abzubauen? In ihrem Buch Gegen den Hass hat Carolin Emcke gezeigt, wie er gemacht wird und was man gegen ihn tun kann. Sie verbindet die Diagnose mit der Therapie. Kann man lernen zu ‚enthassen‘, sich der Komplizenschaft des Hasses zu entwinden und den Hass zu überwinden? Emckes Rezept ist eigentlich ganz einfach: indem man konsequent den Weg von der Mitmenschlichkeit zum Hass wieder zurückgeht. Wenn Hass durch fraglose Gewissheit, radikale Einschränkung der Wahrnehmung, ‚Unkonkretheit‘ und die Verwandlung von Menschen in Stereotypen entsteht, dann vergeht er durch Zweifeln, genaues Hinsehen, Differenzierung und den Blick auf Menschen als konkrete Individuen.
Perspektivwechsel und Empathie sind aber nur möglich, wenn auch ‚entlernt‘ wird, was der Hass in langfristiger und zäher Kleinarbeit in den Köpfen und Herzen der Menschen angerichtet hat. Das setzt voraus, schreibt Carolin Emcke, „all die Verknüpfungen, die über Jahre und Jahrzehnte eingeübten begrifflichen und bildlichen Verkrümmungen und Stigmatisierungen zu unterbrechen. All die Muster der Wahrnehmung, die Raster, in denen Individuen zu Kollektiven und die Kollektive mit Eigenschaften und pejorativen Zuschreibungen verkoppelt werden, zu unterwandern .“ 10
Diese Aufgabe sollte bei Kindern beginnen, denn Lernen ist auch hier das Stichwort: So wie Hass, der sich ja nicht einfach einstellt, sondern gelernt wird und von bestimmten sozialen und kulturellen Rahmen gestützt wird, muss auch der Anstand gelernt und Schritt für Schritt in langfristiger und zäher Kleinarbeit in den Köpfen und Herzen der Menschen aufgebaut und verankert werden. An diesem Punkt sind die Pädagogen gefragt, die sich dieser Aufgabe längst widmen und wichtige Einsichten und Erfahrungen angesammelt haben. Leider werden diese Erkenntnisse aber noch kaum umgesetzt. In den Schulen sind in den letzten Jahren alle lernunterstützenden Aktivitäten, die es schon gab, weggekürzt worden, zum Beispiel für Sprachunterricht, Aufmerksamkeitstraining oder soziales Lernen.
Im Bereich des sozialen Lernens gibt es aber langjährige Erfahrungen, Expertise und konkrete Angebote, die nur wieder in die Praxis zurückfinden müssen. Ein Beispiel ist das Projekt „Gemeinsam Leben Lernen“ (GLL) von Günther Hennig. In seinem Institut für angewandte sozialwissenschaftliche Forschung e. V. (IsF) hat er eine „pädagogische Diagnostik“ entwickelt, die es erlaubt festzustellen, wie es in einer Schulklasse um die „pädagogische Grundversorgung“ bestellt ist, die ja die Voraussetzung für jeden Fachunterricht ist. Zu zwei Themenbereichen hat er konkrete Unterrichtseinheiten entwickelt. Die eine betrifft die Entwicklung von Mitgefühl. Empathie ist Teil jeder menschlichen Grundausstattung, wie uns die Hirnforscher bestätigen. Aber sie muss angestoßen und kultiviert werden, damit sie auch als eine Haltung gefestigt und Teil der Persönlichkeitsbildung werden kann. Eine andere Lerneinheit betrifft die Fähigkeit zum Perspektivenwechsel. Auch das ist eine grundlegende kognitive Fähigkeit, die durch systematisches Training entwickelt und gesteigert werden kann. Empathie und Perspektivenübernahme sind für den Gemeinsinn unersetzlich. Sie schützen davor, den eigenen Standpunkt zu verabsolutieren, und machen es möglich, dass wir uns in andere eindenken und mit ihnen mitfühlen können, dass wir sie verstehen und uns mit ihnen verständigen können, um kooperative und kreative Beziehungen einzugehen. 11
Die Gesellschaft steht heute vor riesigen Aufgaben. Dazu gehört neben dem Klimawandel auch die Frage nach dem sozialen Klima in unserer Gesellschaft. Aber ohne „den Boden zu festigen, auf dem wir stehen“, um noch einmal eine Formel von Carolin Emcke aufzugreifen, kurz: ohne Frieden, Demokratie und Solidarität können die aktuellen Herausforderungen unserer Gesellschaft nicht tatkräftig aufgenommen, geschweige denn bewältigt werden.
„Für ein offenes Land mit freien Menschen“ stand auf einem Plakat im Vorfeld der friedlichen Revolution in Leipzig am 4. September 1989. Mit ihrer Freundin Gesine Oltmanns hielt es Katrin Hattenhauer in die Höhe und wurde dafür eine Woche später noch mit einem Monat Haft bestraft. 12Diese Botschaft ist nach mehr als 30 Jahren wieder aktueller denn je, daran gilt es anzuknüpfen. Das tut zurzeit eine Plakataktion in Schwarz-Rot-Gold-Optik, vielleicht haben Sie schon einige ihrer Anzeigen gesehen mit Sätzen wie: „Wir leben Vielfalt nach dem Prinzip der Gleichheit.“, oder „Wir sind Liebe. Das bleibt. Und ein Land, das dazulernt“, oder „Wir glauben an die Freiheit. Und an die Freiheit des Glaubens.“ Darunter folgt jedes Mal: „Wir sind Rechtsstaat. Wir sind Rechtsstaat.“
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