Diese Haltung des Staunens verbindet das nicht mehr ganz wilde, aber noch nicht verkorkste Kind mit dem Philosophen Platon, in dessen Dialogen sich so viele Gedanken über Kindheit und Jugend, Erziehung und Spiel finden. Der zum Sehen geborene, zum Schauen bestellte Mensch findet im Erstaunen zur Philosophie und durch sie zur Spekulation.
Anfang und Bedingung der Philosophie ist das Staunen. Das hat Platon in seinem großen Spätwerk, dem Dialog „Theaitetos”, für alle Zeiten festgehalten. Hier sagt der durch die scharfsinnigen Darlegungen des Sokrates ratlos verwirrte Jüngling, nach dem der Dialog benannt ist: „Bei den Göttern, mein Sokrates, ich komme aus dem Staunen nicht heraus über die Bedeutung dieser Dinge, und manchmal wird mir’s beim Blick auf sie geradezu schwindlig.” Darauf versetzt der Meister dem vom Gefühl gelinden Taumels ergriffenen Theaitetos: „Das ist ganz und gar das Pathos — die Gemütsverfassung — eines wahrhaften Philosophen: das Staunen. Es gibt keinen andern Anfang der Philosophie als diesen.”
Das Staunen ist aber nicht nur der kindhafte Anfang der Philosophie, sondern auch ihre reife Frucht in höchstem, beinah schon leisest verklingendem Alter. Der liebebewegte Philosoph geht den Weg vom Sinnlichen zum Seelischen, vom Seelischen zum Geistigen, und immer neue Schönheiten immer umfassenderer Art erschließen sich ihm, sagt Diotima im „Symposion”. Am Ende aber wird er, so fährt sie fort, „plötzlich ein staunenerregendes wesenhaft Schönes erblicken, auf das alle früheren Bemühungen hinzielten”: „Auf dieser Stufe ist, wenn irgendwo, das Leben für den Menschen lebenswert.”
Es ist dies der Weg vom nichtwissenden Staunen zum die Idee mit großen weitgeöffneten Augen schauenden Staunen, der Weg von der verblüfften Verwunderung zur ergriffenen Bewunderung, von der Ratlosigkeit zur Kontemplation und Spekulation.
Spekulation höchster Art kann nicht trügen. Sie vermag allerdings denjenigen, der sie pflegt, unter Umständen für das, was man gemeinhin das Leben nennt, untauglich zu machen, ähnlich wie Weitsichtige nahe liegende Dinge nicht oder nur undeutlich wahrnehmen. Ähnlich ergeht es ja auch dem Goetheschen Türmer Lynkeus. Streit und Verwirrung entstehen erst, wenn das, was staunend gesehen und visionär geschaut wurde, in Worte übersetzt werden soll: in meistens vieldeutige und durch langen Gebrauch belastete Worte aus oft ganz andern Lebensbereichen. Streit und Verwirrung entstehen vor allem dann, wenn Philosophie jenes tertium datur vergißt, das ihr Standort ist, sofern sie staunt und spekuliert: weder Wissenschaft noch Dogma, weder Laboratorium noch Kirche, weder Politbüro noch Werbeagentur, sondern eben das Aushalten im Erstaunen und die Bereitschaft, wie Heidegger, Platon fort-denkend hinzufügt, „dieses Erstaunen als Wohnsitz anzunehmen”.
Wenn dies geschieht, dann verliert das Spekulieren jeden Beigeschmack von Überheblichkeit. Es ist nichts als das zutiefst demütige Verharren im Anblick der Welt-Tiefe, die tiefer ist, als der Alltagsverstand wähnt. Dieser will Sicherheit, Gewißheit, Richtigkeit, vor allem aber eine „demokratisch” mißverstandene Einfachheit. Er will begreifen und beweisen, wo man bestenfalls schauen und staunen kann, weil das in Erscheinung Tretende wesentlich unantastbar und unergründlich ist. Deshalb ist Philosophie von jeher eine Sache einsamer Einzelgänger oder kleiner verschworener Bünde, obwohl es vielleicht jedem Menschen in gewissen Augenblicken widerfährt, unbewußt und ungewollt zu philosophieren.
Auch dies hat Platon bereits gesehen, wie sein Wort im Dialog „Sophistes” zeigt, wo vom Denken als dem „tonlosen Gespräche der Seele mit sich selbst” die Rede ist. Der Denker ist all-ein mit sich selbst. In der Zwiesprache der Seele kommt etwas zu Wort, das im Grunde unsagbar ist. Es sind die ersten und die letzten Dinge, auf die es ankommt. Logik und Dialektik, Geometrie und Semantik, Definitionen und Methoden, Zahlen und Figuren sind dazu nur Vorspiel, Rüstzeug und Übung. Sie sind nicht das Ziel. Das Ziel ist wie der Ursprung der hochzeitliche Beginn des Staunens. Von ihm gilt das merkwürdige Wort in den „Nomoi”: „Denn der Anfang ist auch ein Gott und rettet alles, wenn er von jedem die gebührende Ehre empfängt.” In ihm gründet fruchtbare Spekulation, die im Grunde Intuition ist.
Was aber ist Intuition? Nun, es kann ja gar nicht anders sein, das aus dem Lateinischen stammende Wort bedeutet ursprünglich ganz einfach: anschauen, betrachten, im Auge haben, in gelegentlichem Zusammenhang auch: staunen. Diese spekulierende Intuition oder intuitive Spekulation kann in dafür Empfänglichen geweckt, aber nicht wie einer der üblichen Lehrgegenstände eingetrichtert werden. Das ist der Sinn der sokratischen Kunst, der Mäeutik, der „Hebammenkunst”, die ebenso ein Charisma ist wie der damit eng verwandte pädagogische Eros. Wem sie zu eigen sind, von dem geht jene Wirkung aus, die Adalbert Stifter in seinem wahrhaft platonischen Roman „Nachsommer” einer vornehmen Frau zuschreibt: „Es schien, daß das, was die vorzüglichsten Männer in ihrer Gegenwart sprachen, von ihr angeregt wurde, und daß ihre größte Gabe darin bestand, das, was in andern war, hervorzurufen.” In Gegenwart solcher Menschen erinnern wir uns plötzlich dessen, was wir nichtwissend schon wissen. Erinnernd wird aus Einsamkeit Gemeinschaft, aus Schweigen Zuspruch.
Auch dies hat Platon in den unvergeßlichen Worten seines siebenten Briefes formuliert, im Bewußtsein, daß er hier eine Dimension berührt, die eigentlich jenseits des Äußerungsfähigen liegt: „Denn es läßt sich nicht in Worte fassen wie andere Wissenschaften, sondern aus dem Zusammensein in ständiger Bemühung um das Problem und aus dem Zusammenleben entsteht es plötzlich wie ein Licht, das von einem springenden Funken entfacht wird, in der Seele und nährt sich dann weiter durch sich selbst.”
Platon hat mit diesen Worten sein Ideal einer „Akademie” umrissen, von der unsere Lehr- und Diskutierbetriebe bloß den Namen haben. Kein akademischer Philosoph würde heute mit Cicero Platon den „Gott unter den Philosophen” nennen. Auch vom urspringenden Staunen wird von Schulphilosophen kaum gesprochen, wohl aber in zunehmendem Maße von über die Grenzen ihres Faches hinausdenkenden Naturwissenschaftlern und Soziologen, vor allem aber von den Dichtern.
Achtzig Generationen waren über die Erde gezogen, als Nikos Kazantzakis in dem analphabetischen Arbeiter Alexis Sorbas einen Menschen unseres Jahrhunderts gestaltete, der, ohne je von Platon etwas vernommen zu haben, ein naturwüchsiger Platoniker ist: „Mit demselben fragenden Erstaunen pflegt er jeden Menschen, einen blühenden Baum, ein Glas frisches Wasser anzusehen … Alles erscheint ihm als Wunder, und jeden Morgen, wenn er die Augen aufschlägt und die Bäume, das Meer, die Steine oder einen Vogel ansieht, steht er mit offenem Mund da.”
Die Sonne Homers lächelt auch uns noch und ebenso das Intelligenz, Argument und Apophantik gewordene Lächeln der leicht gekräuselten Lippen des Sokratikers Platon. Das Lächeln des metaphysischen Charmeurs ist das gleichsam transzendentale Lächeln des Odysseus von Ithaka wie des Alexis Sorbas von Kreta. Es umspielt das Antlitz Picos della Mirandola, Erasmus’, Goethes und Novalis’. Mag in gewissen Stunden philosophischer Verdauungsschwäche und Verstimmung ein freudloser Famulus sich trübselig sagen:
Ich empfinde fast ein Grauen ,
Daß ich, Plato, für und für
Bin gesessen über dir:
Es ist Zeit hinauszuschauen
Und sich bei den frischen Quellen
In dem Grünen zu ergehn ,
Wo die schönen Blumen stehn …
(Martin Opitz)
Aber was ist recht verstandener Platon, der nicht zum verschulten Platonismus oder altphilologischen Pflichtpensum erniedrigte Platon, anderes als ein Wasserfall frischer Quellen und ein ewiger Frühling, der den abendländischen Geist immer wieder zum Erblühen bringt? Sooft uns seine Sonne lächelt, taut das Eis der Denkzwänge und Schematismen, ist etwas Griechisches im Aufbrechen: am Pariser Hof zur Zeit des Scotus Eriugena; im zwölften Jahrhundert in Chartres; dann im mediceischen Florenz und überhaupt in der italienischen Renaissance; in der im siebzehnten Jahrhundert gedeihenden Schule von Cambridge, die mittelbar noch einen Newton beeinflußte; in Weimar und Jena zur Zeit Goethes und Schillers; unter König Ludwig I. in München, als dort Baader, Schelling, Görres, Döllinger und Lasaulx lehrten.
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