Doch derselbe Platon spricht an andrer Stelle, in den „Nomoi”, von dem „gottbegeisterten Dichtergeschlecht”, das „durch die Gunst der Chariten und Musen mit seinen Liedersprüchen oft genug die Wahrheit trifft”. Derselbe Platon plädiert für eine musische Erziehung, lobpreist das Ästhetische als menschenbildende, ethosformende Macht. Gesang und Reigen sind für ihn nicht bloß Kinderspiel, sondern staatsbürgerliche Einrichtung und Gottesdienst zugleich. Platon, der einmal die Dichter für Lügenbolde und Jugendverderber, ein andermal für göttlich inspirierte Lehrmeister der Wahrheit hält, einmal geradezu calvinistisch ernst und nüchtern, dann aber zu solchen Aussagen sich hinreißen lassend: „Jedermann also, ob Mann oder Frau, möge die schönsten Spiele zum eigentlichen Inhalt des Lebens machen, ganz im Gegensatz zu der jetzt herrschenden Denkweise … Eben dies, Spiel und Bildung, sind für uns Menschen das Ernsthafteste. Gewisse Spiele muß man zum eigentlichen Inhalt des Lebens erheben, nämlich Opfer, Gesänge und Tänze” (Nomoi).
Der die Vernunft vergöttlichende, die Leidenschaften verdächtigende Intellektualist feiert im „Phaidros” Begeisterung und Wahnsinn, Enthusiasmos und Mania , als Gottesgeschenke, die den in sich verrammelten und verkrusteten Menschen überschwänglich heilsam entgrenzen, öffnen und erschüttern: „Nun aber entstehen uns die kostbarsten Güter aus einem Wahnsinn, der als göttliche Gunst verliehen wird …” (Phaidros); und er zählt auf die Pythia des Orakels zu Delphi, die Priesterinnen in Dodona, die Sibylle und andere verzückte Seherinnen; die Mysterien des Rausch- und Lösegottes Dionysos; das Besessensein von den Musen, das den Dichter erst zum Dichter werden läßt; und schließlich die Hingerissenheit durch das überwältigende Ereignis des Schönen, die erotische Erschütterung, die allerdings etwas anderes ist als noch so heftige Begierde. „Tatsächlich ist es allein der Schönheit beschieden, zugleich in höchstem Maße sinnenfällig und liebenswürdig zu sein …”
Der die Schönheit als Theophanie rühmende ist zugleich der das Schauen als klarsten, am geistigsten gestimmten Sinn feiernde Platon. Kein Wunder, daß er immer wieder Künstler, Ästheten und Kunstbegeisterte angezogen hat, auch solche, die von sich behaupteten, überhaupt kein Organ für Philosophie zu haben. Die Reihe reicht von Raffael über Shaftesbury, Winckelmann und Joubert bis zur deutschen Klassik und dem Grafen Platen, ja sogar bis zum Jugendstil, bis zu Stefan George, dem Maler, Graphiker und Schriftsteller Richard Seewald, den Malern von Beuron, und dem eine Ethik der Schönheit kündenden Paneuropa-Pionier Richard Coudenhove-Kalergi. „Wär nicht das Auge sonnenhaft, / Die Sonne könnt es nie erblicken …” Goethe hat mit diesen Versen eine durch Plotin vermittelte erzplatonische Einsicht dichterisch knapp zur Sprache gebracht.
Der das Schöne mit dem Guten aufs innigste zusammenschauende Platon ist der Vater des Idealismus. Durch ihn ist das Wort Idee zum festen philosophischen Terminus geworden.
Das griechische Wort idea (Aussehen, Erscheinen, Gestalt) leitet sich ab von idein (sehen, erblicken, schauen); das dazu gehörige Verbalnomen lautet eidos (Bild, Gestalt, Form, das Geschaute). Die Verkleinerungsform von eidos heißt eidolon (Bildchen). Von ihm leiten sich übrigens unsere drei Fremdwörter ab: Idol (Trugbild, Gespenst, Wahnvorstellung, Götzenbild), Idyll (Bild friedlich-einfach-beschaulichen Lebens) und schließlich Ideal (Vorbild, Leitbild, Zielbild).
Welch ein Glück, daß Platon niemals genau definiert hat, was Idealismus ist, wie er ja auch für das, was er mit „Idee” meint, stellenweise andere Ausdrücke gebraucht. Zweierlei liegt freilich offen zutage. Erstens: „Idee” ist bei Platon etwas ganz anderes, recht eigentlich sogar das Gegenteil von dem, was man heute darunter gedankenlos versteht; Idee ist mehr als ein bloßer Gedanke, Begriff oder gar Einfall — und mit eben dieser Einsicht, die Platon immer wieder aufs neue erörtert, beginnt philosophische Kultur. Zweitens: Idealismus ist keine „Lehre”, sondern eine Lebenshaltung; keine Theorie, sondern eine Praxis, allerdings eine theoretisch erleuchtete Praxis oder, wie die Franzosen es nennen, manière de vivre . Der Materialismus ist in weit höherem Maße eine Theorie als der Idealismus; abgesehen davon, daß er sowohl historisch als auch systematisch immer der zweite, wenn nicht gar dritte in der Folge und im Range ist: Antwort, Polemik und Berichtigung des Idealismus; nicht Aktion, sondern Reaktion.
Die Idee ist das Geschaute. Sie ist eigentlich das, was nicht nur wir Menschen eräugen, sondern, wenngleich bewußtlos, alle Geschöpfe in dem Grade, in dem sie wesen und sind. Das ist der tiefe, der abgründige Gedanke, den Platon mit dem Begriff der methexis („Teilhabe”) umschreibt. Alles Seiende verdankt sich einem Sehen, Gesichtetwerden oder kurz und knapp: einem Gesicht. Die Vision ist nur die höchste Steigerung jener seinsstiftenden Ekstase, in der alle Wesen sich an dem Anblick der Ideen ausrichten und von ihnen durchschaut, durchlichtet und mit Sein belehnt werden. Sie bilden sich aus, indem sie sich in die ihnen entsprechenden Ideen ein- und hineinbilden, imaginieren in die „Imago” des Urbildes.
Das sei eine „spekulative” Marotte, mag man sagen: „Begriffsdichtung”, „nichts als Idee”, vielleicht sogar im klinischpsychiatrischen Sinne „fixe Idee”. Das über die Spekulation verhängte Verdikt schüchtert viele ein. Es hatte eine gewisse Berechtigung als Korrektiv gegen einen zuchtlosen Mystizismus. Aber Philosophie ist Spekulation, weil Platon die Philosophie ist. Es ist aberwitzig, von der Philosophie zu verlangen, sich angesichts der Erfolge einer methodologisch beschränkten Naturwissenschaft auf bloße Fragen der Epistemologie, Logik und Semantik zu konzentrieren (so bedeutsam diese Probleme unleugbar sind, sofern man sie in einem größeren Sinnzusammengang behandelt). Arbeitsteilung, Methodologie, Aufmerksamkeit auf reproduzierbare und zwingend einsichtige Details in Ehren — aber dies kann doch nicht das letzte Wort sein: Sicherheit um jeden Preis, Wahrheit reduziert auf das experimentell Erwiesene oder mathematisch Gültige. Auf die Dauer läßt sich nicht der mit dem Leben gleichzusetzende Impuls unterdrücken, der wissen will, was es alles zu verstehen gibt, und nicht bloß, wie es nach den Normen der Schule zu verstehen sei. Wer diese meine Auffassung teilt, befindet sich in guter und überaus bunter Gesellschaft, in der man Whitehead, Bergson, Klages, Solowjow, Heidegger, Bloch, Spann und Hans Jonas begegnen kann. Sie alle haben das Abenteuer der Spekulation gewagt.
Man lasse sich doch nicht durch den zufälligerweise in die Sprache der Börsianer und Steuerfahnder gelangten Ausdruck beirren. Spekulieren kommt vom lateinischen speculari , „spähen”, auslugen, ins Auge fassen. Aus einem gewissen Abstand, etwa von einer Warte (specula) , das, was sich zeigt, die species , nachdenklich zu betrachten, ist die spekulative Haltung des Philosophen vom Schlage Platons. Das lateinische Wort species (Anblick, Gestalt, Erscheinung) entspricht ganz dem griechischen eidos oder idea . Der spekulierende Mensch gleicht dem Türmer Lynkeus, der das platonische Hochgebet ausspricht:
Zum Sehen geboren ,
Zum Schauen bestellt …
Der spekulierende Philosoph ist in die Tiefe spähender Kundschafter des Weltgeheimnisses. Sicherheit gibt es da keine, eher packt ihn der Schwindel. Statt verbürgte Gewißheit in kleine Rechenpfennige auszumünzen, setzt er sich einem ätherischen Taumel aus. Dieser Taumel ist das Staunen, das thaumazein des Griechen — die Wurzel ursprünglicher Spekulation. Platon nennt es ausdrücklich „das Pathos des Philosophen”. Und abermals, wie bei den Wörtern Idee und Spekulation, gewahren wir eine schaubezügliche oder ophtalmische Grundbedeutung. Sowohl das griechische thaumazein wie das deutsche staunen bedeuten bereits in vorphilosophischem Sinne soviel wie verwundert anschauen, unverwandten Blickes starren, vor dem Unbekannten, Fremden oder Wunderbaren anschauend standhalten …
Читать дальше