1 ...6 7 8 10 11 12 ...20 Der Mann verzog das Gesicht und schüttelte langsam den Kopf. »Dann muss ich Ihre Verwirrung der Tatsache zuschreiben, dass Sie das Bewusstsein verloren hatten. Für dieses Mal lasse ich es Ihnen durchgehen. Aber ich muss Sie warnen: Mein Partner hier ist weitaus weniger geduldig. Also, noch einmal. Ich möchte Sie nicht ausrauben, ich brauche Informationen.«
Erneut durchbohrte Lynch ein Gefühl von Angst. Diese Männer waren eindeutig hochgefährlich. Doch abgesehen von seiner Verzögerungstaktik sah er keine anderen Optionen.
»Informationen?«
»Genau. Sie betreuen eine Klientin namens Patricia Marshall. Oder sollte ich sagen, Patricia Ramsey?«
Lynch versuchte, seine Überraschung zu verbergen, aber es gelang ihm kaum.
Der Russe nickte. »Ich sehe, dieser Name bedeutet Ihnen etwas. Lassen Sie uns also auf weitere Spielchen verzichten, Mister Lynch. Ich weiß, dass Sie ihren Nachlass regeln. Ich brauche Informationen über sie. Alles was Sie wissen. Was sie vererbt hat, und an wen.«
»Ich … Patricia Marshall? Ich weiß nicht … an diesem Fall ist überhaupt nichts dran … eine ganz einfache Erbschaft … ich habe nur ihr Geschäft abgewickelt, ihre Wohnung und ihren Laden … was soll ich Ihnen da erzählen?«
Die Tür öffnete sich und der kürzere Mann kam mit einem Papierschneider und einer großen Schere herein, die Klingen glänzten im Licht des Flures. Er stellte die beiden Werkzeuge auf den Tisch.
»Mister Lynch, erlauben Sie, dass ich uns vorstelle. Ich bin Vadim, und das ist Sasha, den Sie bereits kennengelernt haben, wenn auch nicht unter den angenehmsten Umständen. Sasha ist ein Experte für Verhörtechniken. Nach zwanzig Jahren im sibirischen Strafvollzug ist er vielleicht sogar der Beste auf unserem Planeten. Sasha und ich haben schon Dinge erlebt, mit denen ich Ihre Seele nicht belasten wollen würde.« Er machte eine dramaturgische Pause, um seinen Worten mehr Gewicht zu verleihen. »Ich erwähne das nur, damit unsere Unterhaltung nicht unnötig unangenehm verläuft. Sie werden uns sagen, was wir wissen wollen, und zwar alles. Sie werden sogar darum betteln, uns Dinge zu beichten, die wir gar nicht wissen wollen. Ihre tiefsten Geheimnisse. Die Ihrer Klienten. Passwörter, Kontodaten, Verbrechen. Am Ende wird es vor uns keine Lügen mehr geben.«
Lynch verkniff sich jeglichen Kommentar, das Blut wich ihm aus dem Gesicht.
»Da, Sie werden reden«, fügte Sasha nachdrücklich hinzu.
»Das ist Ihre Chance, das Ganze für Sie einfach zu machen. Sagen Sie uns alles über das Testament. Fangen Sie damit an, wo sich die Akten befinden. Nachdem ich diese gelesen haben, werde ich genau wissen, was ich noch fragen muss.«
»Was wollen Sie denn wissen? Sagen Sie mir das, dann kann ich Ihnen vielleicht helfen«, versuchte Lynch sein Glück mit dem Ziel, das Gespräch in die Länge zu ziehen.
»Das habe ich Ihnen doch gerade genauestens erklärt. Das Testament. Wo ist es?«
»Es … es ist in einem Schließfach in der Bank!«
Der Russe seufzte mit der Schwere eines sibirischen Windes, der die Sorgen der gesamten Menschheit in sich zu tragen schien. »Es ist ganz offensichtlich, dass Sie die Brisanz der Lage nicht begreifen. Sasha? Fang mit Mister Lynchs linker Hand an. Wenn er die Finger los ist, dann wird er vielleicht kooperieren.«
»Nein, ernsthaft. Ich sage die Wahrheit«, bekräftigte Lynch, inzwischen mit reiner Panik in der Stimme.
»Das kann sein. Aber vielleicht spielen Sie auch nur mit uns. Sagen Sie schon mal Adieu zu Ihren kleinen Freunden. Es ist schade, dass Sie es so weit haben kommen lassen. Denn so oder so: Sie werden uns alles sagen.«
Und zwanzig Minuten später hatte Lynch genau das getan.
Sasha kramte eine kalte Flasche Wasser aus dem Bürokühlschrank und nahm diese mit zum Waschbecken, um die Blutspritzer von seinem Gesicht zu spülen, wobei er darauf achtete, nichts zu berühren. Eigentlich war das egal, da seine Fingerabdrücke nirgends in den USA registriert waren. Doch Vorsicht war die Mutter der Porzellankiste.
Vadim schaute auf die Uhr und sagte leise etwas auf Russisch, bevor er auf die Eingangstür deutete. Nachdem sie eine letzte Runde durch die Räume gemacht hatten, schlichen sie aus dem Büro und die Nottreppe hinunter, geräuschlos wie Gespenster.
Der entstellte Körper des glücklosen Anwalts sollte schon bald von den Gebäudereinigern gefunden werden.
Drake schreckte aus dem Schlaf hoch, in seinem Mund hatte er einen metallischen Geschmack – ein Andenken an sein fragwürdiges Essen und das reichliche Bier. Ihm wurde klar, dass er praktisch auf der Computertastatur eingeschlafen war. Er hustete und setze sich auf, wobei er die Rückenschmerzen sowie das Kribbeln in seinen eingeschlafenen Gliedmaßen ignorierte. Ungelenk stand er auf und streckte sich, woraufhin er in die Küche schlurfte, um sich Wasser und eine Kopfschmerztablette zu holen – etwas, dass er immer auf Lager hatte, egal wie leer seine Speisekammer war.
Drake schaute auf die Uhr und blinzelte; es war sieben Uhr morgens, also hatte er etwa drei Stunden geschlafen. Kein Wunder, dass er sich wie der Fußboden einer Kneipentoilette fühlte. Vorsichtig schnüffelte er an seinen Achseln und verzog das Gesicht. Da musste sofort etwas unternommen werden.
Der heiße Schauer aus der Dusche gab ihm neue Kraft und brachte seinen Verstand in Schwung – sofort setzte er gedanklich wieder da an, wo er aufgehört hatte. Er hatte seinen Datensatz auf zweiundzwanzig Männer zusammengedampft, die sich etwa in Jacks angenommenem Altersbereich befinden mussten. Was jetzt noch blieb, war reine Fleißarbeit. Er musste sie alle anrufen und testen, wie sie auf bestimmte Fragen reagierten. Ein Vorgang, mit dem er jede Menge Erfahrung hatte.
Drake ignorierte den noch immer starken Fischgeruch aus seinem Wäschekorb und schlüpfte in ein frisches Shirt sowie dunkelbraune Cargohosen. In der Küche lud er seine Kaffeemaschine mit einer doppelten Ladung und wartete ungeduldig, bis das Gerät lautstark seinen Wachmacher ausgespuckt hatte.
Nach der zweiten Tasse würgte er einen alten Müsliriegel herunter und kehrte schließlich an seinen Computer zurück, den er für Internet-Telefonate benutzte.
Der erste Jack, den er anrief, wohnte in Trenton, New Jersey. In der dortigen Zeitzone war es schon drei Stunden später, man durfte also ruhig stören. Der Mann antwortete nach dem dritten Klingeln.
»Hallo?«
»Ja, guten Tag, hier ist Frank Lombard von der Kanzlei Nellis. Wie geht es Ihnen an diesem wunderschönen Morgen?«
»Wer ist da?«
»Frank Lombard von der Kanzlei Nellis. Spreche ich mit Jack Brody?«
»So sieht’s aus. Was wollen Sie?«
»Ich verwalte einen Nachlass und suche den Jack Brody, der im Testament aufgeführt ist.«
»Testament?«
»Ja. Dürfte ich Ihnen vielleicht ein paar Fragen stellen?«
»Das war ja schon die Erste.«
»Das stimmt, dann mache ich mal weiter. Kennen Sie eine Patricia Ramsey?«
Drake lauschte extrem konzentriert auf jede Besonderheit in der fremden Stimme: Klangfarbe, Wortwahl, Atemgeräusche, Timing.
»Wen?«
»Patricia Ramsey. Oder sagt Ihnen der Name Ford etwas?«
»Ich fahre einen. Verdammt guter Truck. Nur bei neuen Modellreihen sollte man erst mal abwarten.«
»Ich danke Ihnen für Ihre Zeit, Mister Brody.«
Drake legte auf und strich den ersten Namen von seiner Liste. Fünfundvierzig Minuten später stieß er dann auf Gold. Eine jung klingende Frauenstimme ging ans Telefon und er fragte nach Jack.
»Wer spricht da?«
»Frank Lombard. Ist Jack da?«
»Ich kenne keinen Frank Lombard.«
»Nein, das habe ich mir gedacht. Mit wem spreche ich denn bitte?«
»Mit seiner Tochter.«
»Ah, wie schön. Ist er denn Zuhause?«
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