Drake nahm das Stück Papier entgegen. Die Kanzlei hatte seinen Flug bezahlt und damit war alles erledigt. Abgesehen von der Lebensversicherung. Lynch schüttelte Drakes Hand und entließ ihn dann in die Lobby, wo er sich ein Taxi rufen ließ und den Fahrstuhl ins Erdgeschoss nahm. In der einen Jackentasche hatte er die Aufzeichnungen seines Vaters, in der anderen ein kleines Vermögen.
Er ließ sich von dem Fahrer bei der nächsten Filiale der Bank absetzen, die den Scheck ausgestellt hatte und wartete geduldig in der Schlange, bis er ihn einlösen konnte. Dabei ignorierte er den skeptischen Blick des übergewichtigen Angestellten, der ihm das Geld in Hundert-Dollar-Noten auszahlen sollte.
Das Taxi stand immer noch auf dem Parkplatz, als er mit dicken Geldbündeln in den Hosentaschen wieder nach draußen kam. Er gab dem Fahrer als Nächstes die Adresse seines Hotels und ließ sich dann in den Sitz fallen. Seine Gedanken drehten sich nur um die unglaubliche Entwicklung der letzten Ereignisse. Er hatte jetzt buchstäblich die Taschen voller Geld und nichts zu tun, außer sich mit den Aufzeichnungen seines Vaters auseinanderzusetzen.
Anschließend nahm Drake ein spätes Mittagessen ein, wobei er sich einen Hamburger und ein Bier gönnte. Dann las er an einem ruhigen Tisch im Hotelrestaurant. Als der Kellner auftauchte, um seinen leeren Teller abzuräumen, war Drake überrascht – eine halbe Stunde war im Handumdrehen verflogen, das Büchlein hatte ihn regelrecht in seinen Bann geschlagen. Er zahlte die Rechnung, kehrte auf sein Zimmer zurück und verbrachte den Rest des Tages mit Lesen. Als die Nacht hereinbrach, war er fertig, und der bereitgelegte Schreibblock des Hotels war voller Notizen.
Ford Ramseys Aufzeichnungen zufolge hatten die Inka um das Jahr 1600 herum auf der Flucht vor den Spaniern ihre Reichtümer in den Dschungel geschleppt, wo sie eine neue Siedlung gründeten: Paititi, die Inka-Stadt aus Gold. Für etwa ein Jahrhundert florierte die Stadt, doch dann änderte sich etwas. Der Fluss, der die Metropole versorgte, wurde verunreinigt, und die Bevölkerung verlor dadurch ihre Reproduktionskraft. Irgendwann war der letzte Bewohner verstorben und es blieb nur eine Geisterstadt zurück. In den Hunderten von Jahren, die seitdem vergangen sind, haben sich immer wieder Abenteurer auf die Suche gemacht, doch alle kamen mit leeren Händen zurück … zumindest diejenigen, die überhaupt zurückkamen. Ramsey hatte jedes Fitzelchen Informationen zusammengetragen, selbst aus den obskursten Quellen, und dadurch eine grobe Vorstellung vom Standort der Stadt erhalten. Sie musste irgendwo im östlichen Dschungel Perus liegen, oder schon an der Westgrenze des Amazonas-Regenwaldes in Brasilien. Er hatte den Einschlagsort eines Meteoriten um das Jahr 1700 herum ausgemacht, der möglicherweise das Wasser in der Region verseucht haben könnte.
In den Notizen ließen sich alle Details finden, die den Vater zu seinen Schlüssen gebracht hatten. Dazu gehörte seine Überzeugung, dass die Inkas einige Außenposten auf dem Weg nach Paititi errichtet hatten, um Nachzüglern den Weg zu weisen. Wenn man diese Orte aufspüren könnte, würden sie den Weg nach Paititi weisen. Drakes Vater hatte eine Ahnung, wo er nach den letzten Gliedern dieser Kette suchen musste, und war deswegen auf eine schicksalhafte Reise nach Peru aufgebrochen, die seine letzte sein sollte.
Als Drake das letzte Kapitel erreichte, nahm die Geschichte allerdings noch eine ominöse Wendung. In völlig leidenschaftsloser Sprache schilderte sein Vater, dass er von einem amerikanischen Geheimdienst mit einem Angebot konfrontiert worden war, das er nicht ausschlagen konnte. Die Sache unterlag offensichtlich höchster Geheimhaltung und wurde entsprechend nicht weiter ausgeführt.
Das war der letzte Eintrag seiner Aufzeichnungen.
Drake lehnte sich zurück und betrachtete das kleine Büchlein nachdenklich. Sein Instinkt als investigativer Journalist war vollends geweckt und die letzten Seiten hatten ihm ganz deutlich gemacht, warum sein Vater auf die Suche nach der verlorenen Stadt aufgebrochen war. Es ging nicht nur darum, dass Paititi ein historischer Fund wäre, sondern ganz offensichtlich ging es auch um Belange der nationalen Sicherheit – wobei die Zusammenhänge zwischen einer Inka-Stadt und amerikanischen Geheimdiensten vielleicht sogar ein noch größeres Mysterium waren als Paititi selbst.
Drake schaute seine Notizen durch und stellte sich dem Ansturm von Gefühlen in seinem Kopf. Er hatte gerade einen Einblick in die Gedankenwelt seines Vaters bekommen, und durch sein offenbar erbliches Talent, die gleichen Muster zu erkennen und dieselben Schlüsse zu ziehen, wurde er regelrecht in diese Welt hineingesogen. Nachdem er einige der notierten Namen umkringelt hatte, holte er sein iPad hervor und startete Suchen nach Paititi und diversen anderen Begriffen. Er las die Legende des verlorenen Schatzes und schnell wurde ihm klar, dass dessen Verlockung ihn bereits voll erfasst hatte.
Natürlich plante er nicht wirklich, sich selbst auf die Suche nach einem Inka-Schatz zu machen. Das wäre Wahnsinn. Aber es sprach nichts dagegen, den alten Freund seines Vaters ausfindig zu machen, um zu erfahren, was in den letzten Tagen von Ford Ramseys Leben geschehen war. Diesem Unterfangen stand rein gar nichts im Wege, denn er hatte keinen Job mehr aber die Taschen voller Geld.
Seine erste Aufgabe würde es sein, diesen Mann ausfindig zu machen. Drake besuchte eine Webseite, die er zur Suche von Kriminellen benutzte und fing an zu tippen. Das Interface flackerte und blinkte, Zahlen und Buchstaben liefen hypnotisch über den Bildschirm, bis ein Fenster aufploppte und Drake weitere Informationen hinzufügte. Es wurde ihm allerdings schnell klar, dass diese Suche nicht einfach werden würde. Es gab Hunderte von Treffern und Drake hatte keine anderen Suchkriterien als den Namen, und der war so nichtssagend, wie es nur irgend ging.
Jack Brody.
Mehr hatte er nicht.
Aber mit genügend Beharrlichkeit würde es reichen.
Als Drake auf dem Flughafen von San Jose landete, ging die Sonne bereits unter, da sich sein Abflug in Seattle um zwei Stunden verspätet hatte. Er beeilte sich, in das Parkhaus und dort zu seinem Wagen zu kommen, denn er fieberte schon seiner kommenden Computersession entgegen. An seinem Rechner würde es ihm sicherlich gelingen, den richtigen Jack Brody zu finden, die Möglichkeiten auf dem Tablet waren hingegen einfach zu beschränkt – ein Umstand, der seine Wartezeit in Seattle noch frustrierender gemacht hatte.
Rosa- und orangefarbene Wolkenbänder marmorierten den zwielichtigen Himmel, als er aus dem Parkhaus kam. Als er das Fenster herunterkurbelte, um den Parkwächter zu bezahlen, fühlte sich die Luft schwer und feucht an – ein Frühjahrsregen war im Anmarsch.
Die Fahrt nach Hause war erwartungsgemäß zäh, denn die Freeways waren vom Feierabendverkehr verstopft. Die nicht enden wollenden und immer gleich aussehenden Einkaufszentren und Autoläden, an denen er vorbei rollte, wirkten wie Altare des Kommerzes auf ihn und versetzten ihn in eine melancholische Stimmung.
Als er es endlich nach Hause geschafft hatte, lagen auf seiner Türschwelle die Zeitungen der vergangenen beiden Tage, doch er kickte sie achtlos beiseite. Und als er sich in seiner Wohnung umschaute, wurde ihm einmal mehr klar, dass er eine viel zu hohe Miete für dieses schäbige Zimmer zahlte. In Menlo Park waren die Preise durch den nicht enden wollenden Boom Silicon Valleys immer mehr in die Höhe geschossen, und dadurch war eigentlich die gesamte südliche Halbinsel für Menschen, die nicht gerade im Softwarebusiness waren oder High-Tech-Elektronik entwickelten, kaum noch zu bezahlen. Grimmig knipste er das Licht an und begab sich in die lächerlich kleine Küchenecke.
Dort zog Drake die drei dicken Bündel von Hundert-Dollar-Noten aus seinen Taschen und legte sie nebeneinander auf den Tisch. Er war überrascht, wie wenig Platz dreißigtausend Dollar einnahmen. Das wirkte schon fast wie Betrug. Bei seiner normalen Arbeit hätte es sechs bis acht Monate gebraucht, in denen er sein Leben auf der Jagd nach Kriminellen riskiert hätte, um diese Summe zusammen zu bekommen – und es waren einfach nur drei kleine Stapel Papier.
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