Natürlich warf Patricias Unfall gewisse Fragen auf, aber da würden sich schon ganz alltägliche Antworten finden lassen. Er hatte die Frau nie kennengelernt, was konnte er schon sagen, mit welchen Dämonen sie sich herumschlug? Vielleicht war sie es einfach leid gewesen, jeden Morgen aufzustehen und zur Arbeit zu fahren. Das passierte vielen doch ständig, auch wenn die meisten dann doch einen Grund finden, weiter zu machen, war Patricia vielleicht zu dem Schluss gekommen, dass es das alles nicht wert war. Vielleicht war für sie die Zukunft furchteinflößender als die Aussicht auf ein ewigwährendes Nichts.
Zu dem Zeitpunkt, als Jack schließlich zurückkam, hatte Drake sich schon komplett an den Gedanken gewöhnt, dass es einfach überhaupt kein Problem gab. Doch er musste seinem Gegenüber nur ins Gesicht schauen, um zu ahnen, dass er sich ganz schrecklich geirrt hatte. Jack warf ein Blatt Papier auf den Tisch.
»Ist das der Kerl?«, fragte er vorwurfsvoll.
Drake schnappte sich die Seite und begann, den Artikel zu lesen, den Jack ausgedruckt hatte. Mit jedem Satz, den er las, wich mehr Farbe aus seinem Gesicht, und schließlich hatte er das Gefühl, sich übergeben zu müssen.
Nachdem er den Artikel fertig gelesen hatte, legte Drake das Blatt wieder auf den Tisch und atmete mehrmals tief durch. Jack hob eine Augenbraue, schwieg aber, bis Drake sich wieder gefangen hatte.
»Ja, das ist er«, seufzte er schließlich.
»Das hatte ich befürchtet. Denn es ist genau der Stil der Russen: Brutal und völlig unverhohlen, sie haben keinerlei Respekt vor dem Gesetz. Es sei denn, du denkst immer noch, dass so ein ›Folter-Mord‹, wie sie es in dem Artikel nennen, nichts mit unserem Fall zu tun hat.«
»Ich … ich weiß nicht, was ich denken soll.«
»Tja, ich weiß es aber. Ich muss gar nicht mehr darauf warten, dass sich mein Kumpel vom Geheimdienst meldet. Es ist egal, ob es die gleichen Typen sind oder ihre Zwillinge, sie sind definitiv hinter dem Notizbuch her. Das bedeutet, wir sind alle in großer Gefahr!«
Drake biss die Zähne zusammen. »Dann verlasse ich euch sofort.«
»Das bringt nichts. Diese Kerle werden trotzdem hier aufkreuzen. Du warst schließlich auch nicht in der Kanzlei, und trotzdem haben sie den Anwalt aufgeschlitzt wie eine Weihnachtsgans. Meinst du etwa, die kommen hierher, fragen Allie und mich ein paar höfliche Fragen und entschuldigen sich dann, dass sie uns gestört haben?«
»Ich habe gerade mit meinem Chef telefoniert. Es hat niemand nach mir gefragt.«
»Das ist zumindest eine gute Nachricht. Vielleicht endet die Spur bei dem Anwalt. Hatte er deine Adresse?«
Drake dachte kurz darüber nach. »Ja.«
»Dann bist du aufgeflogen. Du kannst nicht mehr nach Hause, denn da werden sie auf dich warten.« Er zögerte, dachte fieberhaft nach. »Verdammt. Du hast ein Handy, oder?«
»Natürlich.«
Jack streckte ihm eine offene Hand entgegen. »Gib es mir.«
»Wieso?«
Jack verzog das Gesicht. »Drake, lass mich eines klarstellen. Ich will mich nicht aufspielen, aber wenn ich dir sage, dass du etwas tun sollst, mach es. Dein Leben kann ab sofort davon abhängen! Das hier ist kein Spielchen, du bist in ernster Gefahr. Bisher sind bereits zwei Menschen umgebracht worden. Ich sage ›bisher‹, weil ich dir garantieren kann, dass es nicht dabei bleiben wird. Wenn dir dein Leben lieb ist, dann stelle keine Fragen. Gib mir das Telefon. Sofort!«
Drake schluckte die Wut herunter, die der Tonfall des alten Mannes bei ihm auslöste und redete sich ein, dass es nicht böse gemeint war. Als Ranger war Jack daran gewöhnt, Befehle zu geben, und ganz offensichtlich hatte er sich nie Mühe gegeben, sein Benehmen als Zivilist etwas moderater zu gestalten. Er gab Jack das Handy, und der öffnete sofort das Batteriefach und entnahm den Akku. »Ich weiß nicht, ob das Ding auch noch eine interne Stromquelle hat, aber wir müssen davon ausgehen. Damit können sie deinen Aufenthaltsort herausfinden, und zwar weltweit. Du hast gesagt, du hättest ein fotografisches Gedächtnis?«
»Fast fotografisch habe ich gesagt.«
»Was soll das heißen, fast?«
»Das heißt, dass es fast fotografisch ist. Wie soll ich das erklären? Wenn ich ein Dokument lese, kann ich es auch später noch ganz deutlich vor mir sehen, aber irgendwann verblasst die Erinnerung.«
»Kannst du dir deine Telefonkontakte und Emailadressen merken?«
»Das habe ich schon gemacht. So viele sind das nicht.«
»Okay, dann komm mit.«
Drake folgte Jack zur Hintertür und hinaus in den Sonnenschein. Sie gingen in die Scheune, und sobald sie durch die Tür waren, öffnete Jack einen Werkzeugschrank. Als er sich wieder zu Drake umdrehte, hielt er einen gigantischen Vorschlaghammer in der Hand.
»Was hast du vor?«, fragte Drake überrascht.
»Was denkst du denn?«
Sie gingen wieder nach draußen in die frische Morgenluft. Jack warf das Telefon in den Dreck und zerschmetterte es mit einem einzigen, gut platzierten Schlag. Plastikteile flogen durch die Luft und Drake dämmerte, dass sich seine einzige Verbindung in die weite Welt gerade in Wohlgefallen aufgelöst hatte.
»War das wirklich nötig?«, fragte er.
»Kommt drauf an. Möchtest du, dass dir jemand deine Extremitäten abschneidet und sie dir eine nach der anderen verfüttert?«
»Ich würde sagen, nein.«
»Hast du den Artikel nicht gelesen? Genau das machen sie nämlich, wenn sie dich finden. Oder vielleicht sind sie noch kreativer. Bunsenbrenner. Säure. Glasscherben. Bleichmittel. Kommt ganz drauf an, wie viel Glauben sie dir schenken, wenn du ihnen sagst, wo das Notizbuch ist. Natürlich töten sie dich anschließend trotzdem, aber wenn sie soweit sind, wirst du sie sowieso darum anbetteln. Also tun sie dir damit dann eigentlich noch einen Gefallen.«
»Du machst wirklich keine Späße, oder?«
Jack lehnte sich zur Seite und spuckte auf den Boden. »Drake, hast du irgendwie das Gefühl, dass ich ein Komiker bin?«
Drake studierte ratlos seinen Gesichtsausdruck. »Nein.«
»Dann gehe bitte davon aus, dass ich grundsätzlich keinen Spaß mache.«
»Aber … was machen wir denn jetzt? Also, wenn diese Typen nach mir suchen?«
»Da brauchen wir kein wenn und aber, das ist einfach ein Fakt. Aber trotzdem ist es eine gute Frage. Das Problem ist eigentlich genau das gleiche wie damals, als dein Vater diesen Russen gesagt hat, dass sie sich verpissen sollen. Es gibt eigentlich nur eine Art, wie wir aus der Sache rauskommen können. Und die wird dir nicht gefallen. Scheiße, mir gefällt sie noch viel weniger!«
»Du … du meinst doch nicht …?«
»Wir müssen so schnell wie möglich hier abhauen und nach Südamerika aufbrechen. Denn diese Typen werden erst aufhören, wenn wir Paititi gefunden haben und sie nicht mehr an den Schatz rankommen können. So lange sie annehmen, dass er noch da ist und du die Information besitzt, wie man dort hinkommt, stehst du mit einem Bein im Grab. Und ich leider auch. Allie genauso. So sieht es aus, und egal, ob es uns gefällt, daran gibt es nichts zu rütteln. Mein größtes Problem ist im Moment, dass du nicht bereit bist. Was weißt du über Selbstverteidigung?«
»Schon was. Wie gesagt, ich mache Karate.«
»Musstest du schon mal auf der Straße kämpfen, also ohne Regeln?«
»Ein paar Mal mit flüchtigen Kriminellen.«
»Was ist mit Schusswaffen? Hast du jemals eine abgefeuert?«
»Nein.«
»Und Überlebenstraining hattest du wahrscheinlich auch keins.«
»Richtig.«
Jack seufzte, dann ging er zurück in die Scheune und brachte den Vorschlaghammer weg. Als er wieder herauskam, deutete er auf die Plastikteile auf dem Boden. »Sammle das mal alles ein und wirf es weg. Wenn die hier aufkreuzen, wissen sie sonst sofort Bescheid!«
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