»Das war der letzte Eintrag in seinem Notizbuch.« Drake überlegte, wie er fortfahren sollte. »Und ich erzähle es dir, weil ich deine Meinung dazu hören will … und weil ich denke, dass das Notizbuch vielleicht eine einzigartige Möglichkeit bietet.«
»Eine Möglichkeit?«, echote Jack in unguter Vorahnung. »Was für eine Möglichkeit?«
»Ich weiß, das klingt vielleicht irre, aber ich sehe da eine Chance, die Vision meines Vaters wahr werden zu lassen. Erfolg zu haben, wo er gescheitert ist.«
Jacks Mundwinkel verzogen sich nach unten und er schüttelte den Kopf. »Nein. Auf gar keinen Fall. Dein Vater hat auf der Jagd nach diesem Phantom sein Leben verloren. Ich würde sagen, damit sind genug Ramseys auf dem Altar der Inka geopfert worden.«
»Da gebe ich dir recht. Und deswegen bin ich auch nicht sicher, was ich tun soll. Aber wenn ich mir jetzt so mein bisheriges Leben anschaue, steht da eine dicke fette Null. Ich lebe in einer Gegend, die ich nicht mag, mache einen Job, den ich hasse, und ich habe kein … kein Ziel, auf das ich hinarbeite. Ich dachte immer, ich wäre gerne ein Enthüllungsreporter, aber vielleicht geht es mir in Wahrheit genau um das, was mein Vater gemacht hat. Er hat recherchiert, wo der größte Schatz aller Zeiten versteckt sein soll, und mir schwebt eine Karriere vor, in der ich genau solche großen Geschichten recherchiere. Damit will ich sagen, es hat alles mit Recherche zu tun. Aber erst jetzt, wo ich seine Notizen gelesen und mit dir gesprochen habe, weiß ich, warum ich das so anziehend finde. Es muss Vererbung sein. Irgendwas Genetisches im Blut der Ramseys. Keine Ahnung.«
»Mein Junge, eines muss ich dir ganz klar sagen: Paititi hat schon mehr Menschen das Leben gekostet, als der Everest. Das ist keine Herausforderung, die man mal eben angeht, weil einem langweilig ist. Dieser Dschungel nimmt keine Gefangenen, da findest du jede Variante aller hochgiftigen Gefahren, die unser Planet zu bieten hat, und noch einiges mehr. Meterlange Schlangen, Spinnen, die so groß sind wie meine Faust, Alligatoren und Jaguare, außerdem Indianer, die dir ohne mit der Wimper zu zucken die Kehle durchschneiden, Schmuggler, Diebe … kurz gesagt, es ist der gefährlichste Ort der Welt. Niemand von klarem Verstand würde freiwillig dorthin gehen, niemand!«
»Vielleicht bin ich ja nicht bei klarem Verstand. Mein Vater war es jedenfalls demnach auch nicht. Aber wenigstens hat er sich lebendig gefühlt. Ich fühle nichts. Es kommt mir vor, als würde ich durch das eine Leben, dass ich habe, einfach nur Schlafwandeln – als würde ich eine Rolle in einem Stück spielen, wo man sich bei der Besetzung vertan hat. Bisher konnte ich nicht mit dem Finger darauf zeigen, aber jetzt nimmt es langsam Gestalt an.«
»Dein Vater ist tot wegen dieses verfluchten Schatzes, Junge!«
»Nein, er ist tot, weil er von Russen ermordet wurde. Das hast du selbst gesagt. Und ich glaube, genau da liegt dein Fehler. Du machst sein Ziel für etwas verantwortlich, das auf dem Weg dorthin passiert ist.«
Jack schnaubte verächtlich. »Warum erzählst du mir das alles?«
»Wenn ich mich entscheide, nach Paititi zu gehen, brauche ich Hilfe!«
Jack sprang auf. »Du wirst mehr als Hilfe brauchen! Du brauchst einen Psychiater, weil du eindeutig ’ne Schraube locker hast! Ich wusste doch; ich hätte dich gleich erschießen sollen!«
Drake hielt seinem wütenden Blick stand, ohne mit der Wimper zu zucken. »Vielleicht hättest du das tun sollen. Aber jetzt ist es zu spät.«
»Da würde ich nicht drauf wetten.«
»Schau mal, ich sage ja gar nicht, dass ich mich blind in den Dschungel stürzen will. Ich sage, dass ich darüber nachdenke. Ich habe im Moment etwas Geld und viel Zeit. Das sind nicht die schlechtesten Voraussetzungen.«
»Aber dir fehlen die Überlebenstechniken, um auch nur eine Woche dort durchzuhalten!«
»Kann sein. Aber vielleicht unterschätzt du mich auch. Ich lerne schnell.« Drake stand auf und nahm sich die Fotos und das Messer. »Ich wollte nur mal sehen, wie du reagierst. Offensichtlich bist du nicht begeistert.«
»Wo ist das Notizbuch?«, fragte Jack.
»An einem sicheren Ort.«
»Vielleicht ist der nicht sicher genug.« Jack schlürfte lautstark an seinem Kaffee und studierte die Flecken auf dem Teppich. Offensichtlich überlegte er, was er sagen wollte. »Ich habe heute Morgen schon herumtelefoniert. Bei meinen Kumpels aus dem Informationsgeschäft. Du warst also nicht der Einzige, der sich Gedanken gemacht hat. Ich konnte auch nicht schlafen und bin gegen eins wieder aufgestanden, habe mich an den Computer gesetzt, und mir die Umstände von Patricias Tod angeschaut. Der Unfall … kommt mir verdächtig vor. Sie soll mit etwa fünfundneunzig Sachen von der Straße geflogen sein. Die Frau hatte einen Blumenladen und fuhr einen uralten Buick. Da veranstaltet man doch keine Straßenrennen mitten in der Nacht!«
»Worauf willst du hinaus?«
»Dass die Sache stinkt! Ich hatte ein ganz mieses Gefühl im Bauch, deswegen habe ich meine Bekannten angerufen. Der eine arbeitet in so einer Behörde mit drei Buchstaben und wird jetzt etwas für mich herausfinden.«
»Was?«
»Ob diese zwei Russen noch leben!«
»Und?«
»Ich warte auf den Rückruf.«
»Das ist alles? Du wartest auf einen Anruf?«
»Was ist denn los mit dir? Ja, verdammt, das ist alles! Aber wenn sie noch leben und sich irgendwo anders aufhalten als mitten in Sibirien, dann hast du ein echtes Problem. Oder besser gesagt, wir haben eins. Du hast mich gefunden, also können die das auch.«
»Du denkst doch nicht etwa …«
»Ich denke nicht, ich plane. Ich bereite mich vor. Weil eines sicher ist: Bei diesem Unfall stimmt vorne und hinten nichts. Das ist für mich der Kanarienvogel in ’ner Kohlenmine. Ich könnte das jetzt ignorieren und mich überraschen lassen, aber solche Überraschungen mag ich nicht. Die Alternative ist, meine Fühler auszustrecken und zu schauen, was ich herausfinden kann. Und das habe ich gemacht. Jetzt warte ich. Ein kluger Mann macht kleine, aber überlegte Schritte, und wartet dann die Wirkung ab.«
»Es weiß doch niemand, dass ich die Notizen habe.«
»Wer hat es dir denn gegeben? Wie hast du sie erhalten?«
»Es war ein Anwalt in Seattle.«
»Dann weiß er es. Und jeder andere, mit dem er darüber gesprochen hat.«
»Nein, er weiß nur, dass ich ein Paket bekommen habe, mehr nicht.« Drake hielt inne. »Obwohl … du hast recht. Er hat gesehen, wie ich darin gelesen habe, also weiß er zumindest, dass ich ein Buch von Patricia bekommen habe.«
»Hör zu, vielleicht mache ich mir auch umsonst Sorgen. Vielleicht hatte Patricia ja beschlossen, dass das Leben nicht mehr lebenswert war, und hat einfach Schluss gemacht. Vielleicht war sie auch betrunken oder high, oder hat sich auf eine sehr ungesunde Art Nervenkitzel verschaffen wollen. Aber das passt alles nicht zu der Patricia, die ich kannte. Die Frau war konservativ, zurückhaltend und klug. In der Todesanzeige stand, dass sie einen Blumenladen besaß. Das sagt doch schon alles. Oder klingt das für dich wie jemand, der mit Vollgas in eine enge Kurve brettert?«
»Nicht wirklich.«
Jacks Stimme wurde noch ernster. »Wer weiß, dass du mich besuchen wolltest?«
»Keiner.«
»Keiner weiß, dass du in Texas bist? Ganz sicher?«
Drake starrte die Decke an, ein ungutes Gefühl breitete sich in ihm aus. »Scheiße, mein Boss. Dem habe ich gesagt, dass ich nach Austin fliege.«
»Dann haben wir schon zwei Menschen, die dich verraten könnten. Den Anwalt und deinen Chef. Was hast du mir noch vorenthalten?«
»Jetzt wirst du aber paranoid!«
Jack ignorierte seinen Kommentar. »Wie heißt der Anwalt?«
»Lynch. Michael Lynch, in Seattle. Wieso?«
»Hast du seine Nummer?«
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