»Klar, die ist im Telefon gespeichert.« Drake zog sein Handy aus der Tasche und ging die Kontakte durch, bis er Lynch gefunden hatte. Er gab Jack die Telefonnummer und Adresse.
Jack grunzte: »Beweg dich nicht von der Stelle, ich forsche mal nach. Willst du noch Kaffee?«
»Klar. Aber was meinst du mit forschen?«
»Ich habe da so eine Vermutung. Wenn ich hinter dem Notizbuch her wäre, würde ich mich zuerst um denjenigen kümmern, der Patricias Nachlass verwaltet hat.«
»Aber wie sollten sie das herausfinden?«
»Was würdest du machen, um einen Flüchtigen aufzuspüren?«
Drake blinzelte. »Ich würde mit dem Vermieter reden. Schauen, ob es einen Nachsendeantrag gibt. Ob jemand einen Totenschein angefordert hat.«
Jack nickte zustimmend. »Hm, vielleicht hast du ja wirklich eine Chance. Schau mal, ich sage ja gar nicht, dass jemand hinter dir her ist. Aber es kann nicht schaden, vorsichtig zu sein. Das habe ich deinem Vater auch hundertmal gesagt. Und jetzt sage ich es dir: Erwarte immer das Unerwartete! Das ist wie beim Schach. Pure Strategie. Du musst vorhersagen, was dein Gegner als Nächstes macht, und dich dann darauf vorbereiten. Du musst deine Möglichkeiten abwägen. Immer zwei Schritte im Voraus denken, damit du seine Vorhaben vereiteln kannst. Und sobald du deinen Gegner verstanden hast, musst du sofort das Ruder an dich reißen und handeln. Sonst reagierst du nur, was bedeutet, dass er Tempo und Richtung kontrolliert.«
»Erinnere mich bitte daran, niemals mit dir Schach zu spielen.«
»Ich bin die Geringste deiner Sorgen, wenn diese beiden hinter dir her sind … oder noch schlimmer, wenn sie es jemand erzählt haben, und jetzt ein neuer Gegner auf dem Spielfeld steht.«
»Inwiefern wäre das schlimmer?«
»Weil ich die beiden Russen wenigstens schon kenne. Wenn man zu Anfang weiß, mit wem man es zu tun hat, ist man im Vorteil. Aber wie dem auch sei, ich bin gleich wieder da. Vielleicht rufst du mal deinen Boss an und fragst, ob sich jemand nach dir erkundigt hat – verdächtige Anrufe, irgendwie so was. Sag ihm, dass er sich melden soll, wenn etwas Komisches passiert.«
»Etwas Komisches?«
»Genau.«
Jack stapfte in Richtung seines Zimmers, während Drake in die Küche ging. Allie starrte ihn ausdruckslos an, als er seine Tasse auf die Spüle stellte.
»Ich habe ein wenig von eurem Gespräch mitgehört. Willst du dich wirklich auf die Suche nach dem Schatz begeben?«
»Es gibt einen großen Unterschied zwischen wollen und machen.«
Ihre blau strahlenden Augen schienen Löcher in seine Haut zu brennen. »Es klingt doch einfach fantastisch. Wirklich cool. Ich meine, für mich wäre das einfach der absolute Traum! Dafür habe ich verdammt noch mal studiert!«
»Anscheinend hält dein Vater es für keine gute Idee.«
»Lässt du immer andere Menschen deine Entscheidungen für dich treffen?«, fragte sie.
Er musterte sie. »Du meinst also, ich sollte es machen?«
Sie lächelte ihn spöttisch an. »Du bist ein großer Junge. Aber wenn du Angst hast, Daddys Schuhe anzuprobieren, mache ich dir keine Vorwürfe. Kriminelle zu verfolgen, klingt viel interessanter, als einen Schatz mit Millionenwert zu suchen.«
Drake ärgerte sich über ihren Tonfall. »Ich habe keine Angst.«
»Nee, is’ klar.«
»Wenn du was zu sagen hast, sag es ruhig!«
»Was weiß ich denn schon? Ich bin doch hier nur Zaungast. Die Küchenhilfe. Mehr nicht. Also, wenn du mich entschuldigst, ich muss jetzt den Boden wischen. Dann die Kühe melken und ein bisschen was nähen. Frauensachen halt.«
»Ich sage ja gar nicht, dass du komplett unrecht hast.«
»Wie bitte? Du möchtest noch etwas zu essen? Oder soll ich deine Klamotten waschen?«
Drake hielt die Handflächen hoch. »Waffenstillstand? Ich weiß wirklich nicht, warum du wütend bist, aber was auch immer ich gesagt oder getan habe, es tut mir leid!«
Sie verschränkte die Arme vor der Brust und Drake musste sich wirklich Mühe geben, sich von der daraus resultierenden Betonung ihrer Kurven nicht ablenken zu lassen. »Mir tut es auch leid«, sagte sie mit strengem Blick. »Es ist nur so, dass mir so etwas nie passiert, und dir fällt es einfach in den Schoß, obwohl du keinerlei Training oder Ausbildung in dem Bereich hast. Dann zögerst du auch noch … also ich an deiner Stelle hätte schon im Morgengrauen meine Koffer gepackt und mich auf den Weg gemacht. Aber hey, es ist deine Entscheidung. Das akzeptiere ich.«
»Danke.« Er versuchte es mit einem Lächeln.
»Gern geschehen.« Sie drehte sich weg und öffnete einen Schrank, wobei sie kaum hörbar murmelte: »Auch wenn du dich anstellst wie eine Pussy.«
Drake beschloss, es nicht auf die Spitze zu treiben. Es war deutlich zu spüren, dass für Allie hier mehr mitschwang als die Frage, was er mit dem Notizbuch machen würde. Da sollte er sich besser heraushalten. Also entschied er sich für einen eleganten Rückzug ins Wohnzimmer und tat so, als hätte er nichts gehört.
Im Hinblick auf Jacks Sorgen schnappte er sich dann sein Telefon und wählte Harrys Nummer. Betty nahm beim zweiten Klingeln ab.
»New Start Kautionsabwicklung«, zwitscherte sie.
»Betty, hier ist Drake. Ist Harry zu sprechen?«
»Natürlich, Süßer. Eine Sekunde!«
Harrys Stimme donnerte aus dem klitzekleinen Lautsprecher des Telefons. »Da ist er ja wieder, der verlorene Sohn! Wie geht's, mein Junge?«
»Läuft gut soweit! Mein zweiter Tag im Land der Legenden! Und bei dir?«
»Hier brauchen gerade noch mehr schwere Jungs eine zweite Chance – natürlich sind sie alle unschuldig – was für ein Glück für mich!«
»Freut mich, dass das Geschäft gut läuft. Sag mal, hat irgendjemand nach mir gefragt?«
»Hä, fühlst du dich einsam? Wer sollte denn nach dir fragen?«
»Keine Ahnung. Gab es irgendwelche Anrufer, die mich sprechen wollten? Oder nach irgendwelchen Infos gefragt haben?«
»Nö, gar nicht.« Harry wurde ernst. »Hat das irgendwas damit zu tun, dass du die Stadt verlassen hast?«
»Nein, überhaupt nicht.«
Harry machte eine Pause. »Bist du sicher, Junge? Kannst es mir ruhig sagen.«
»Nee, ich wollte nur wissen, ob jemand herumschnüffelt. Ich kann dir im Moment nicht sagen wieso, aber es ist nichts Illegales, versprochen!«
»Das sagt jeder, der in mein Büro kommt!«
»Harry, bitte …«
»Ich mach doch nur Spaß. Hier ist alles super. Niemand hat nach dir gefragt. Vergiss nicht, du bist hier nicht angestellt, also kann dich kaum jemand mit mir in Verbindung bringen.«
»Ich weiß. Trotzdem, wenn irgendwas Komisches mit den Computern passiert, oder irgendjemand fragen stellt, könntest du dann versuchen, so viel wie möglich herauszufinden und mich dann anrufen?«
Nun schwieg Harry ungewöhnlich lange. »Okay, jetzt mache ich mir wirklich Sorgen. Was hast du ausgefressen, Drake?«
»Gar nichts, ich schwöre es!«
»Das ist deine Version …«
»… und bei der bleibe ich!«, beendete Drake den Satz.
»Dann ist es okay für mich. Ich melde mich bei dir, wenn irgendwas passiert. Und in der Zwischenzeit solltest du die texanische Gastfreundschaft genießen. Austin ist eine Universitätsstadt, also schnapp’ dir ein paar College-Mädchen!« Die aufblitzende Geilheit in Harrys Stimme war ungespielt. Er war zwar seit fünfzehn Jahren glücklich verheiratet, aber in Gedanken projizierte er seine Fantasien immer auf Drake.
»Ich schau mal, was sich da machen lässt.«
»Mach’s gut, Junge!«
»Du auch Harry, und vielen Dank.«
Drake war erleichtert und fragte sich, ob Jack nicht vielleicht eine Schießerei zu viel miterlebt hatte und Gefahr hinter jeder Ecke vermutete. Schließlich saß er hier mitten in einem Wohnzimmer, meilenweit von der Zivilisation entfernt, und die größte Gefahr, die hier lauerte, säuberte gerade demonstrativ laut die Küche.
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