Die rot-weiß-grüne Jacke und die schwarz-gelbe Hose bieten ein schönes Bild für das Unvereinbare, das in der Habsburgermonarchie zusammengefügt war – es passte schon ästhetisch nicht zusammen. Würde man nach den Gründen dieser Unvereinbarkeit suchen, dann müsste man wohl ein paar weitere Musil’sche Paradoxien finden: Der österreichische Teil war kleiner als der ungarische – aber er war reicher bevölkert und wirtschaftlich höher entwickelt. Die Österreicher zahlten daher auch mehr als die Ungarn zu den gemeinsamen Angelegenheiten – aber die Ungarn waren darüber keineswegs froh, sondern wollten eigentlich möglichst gar nichts Gemeinsames, vor allem forderten sie beharrlich eine eigene, von der österreichischen getrennte Armee. Die Ungarn profitierten vom Wiener Kapital, das die ungarische Industrialisierung finanzierte (Komlos 1986, 77–136) – aber gleichzeitig nannten sie es mit Abscheu „fremdes“, ausländisches Kapital. Sie fühlten sich von Wien furchtbar ausgebeutet – aber die Geschlossenheit der ungarischen Eliten verschaffte ihnen bei Verhandlungen mit den Wiener Regierungen immer erhebliche Vorteile, so dass sie immer wieder ihre Wünsche und Forderungen durchsetzen konnten. Dabei ging es stets um die Anerkennung der selbstständigen ungarischen Staatlichkeit nach außen, was sich durch die eigene Unterschrift ungarischer (und österreichischer) neben den gemeinsamen Ministern in internationalen Verträgen äußerte (vgl. Stourzh 2000 2 ).
Zur faktischen Unvereinbarkeit Ungarns mit den westlichen Kronländern der Monarchie hat Alphons Lhotsky eine sehr kluge Beobachtung beigesteuert (vgl. Lhotsky 1968 3 ). Er verwies auf einen Aufsatz von Otto Hintze, der schon vor Jahrzehnten auf einen grundlegenden Unterschied zwischen den aus dem Karolingerreich entstandenen kontinentalen europäischen Staaten und den ringsumher liegenden „Randstaaten“ wie England, Schweden, Polen oder Ungarn hingewiesen hatte (vgl. Hintze 1929). In diesen „Randstaaten“ hatte sich nicht der karolingische Feudalismus durchgesetzt, sondern eine andere Staatsauffassung erhalten, die vor allem durch eine sehr starke Position des Adels und ein Fortbestehen der adeligen Selbstverwaltung in den regionalen Einheiten (Grafschaften, Komitaten) bis ins 19. Jahrhundert gekennzeichnet gewesen sei. Tatsächlich blieb in Ungarn eine große Zahl von Adeligen bestehen, in einem viel höheren Prozentsatz als in den westlichen Kronländern. Die westlichen Länder der Habsburger waren hingegen alle einmal Teil des Frankenreichs gewesen und hatten die kontinentaleuropäische Feudalentwicklung durchgemacht, die auf lange Sicht zu einer starken Reduzierung des Adels und zu seiner funktionellen Ablösung durch eine fürstliche und später staatliche Bürokratie geführt hatte. Dieser grundlegende Unterschied wurde von den Habsburgern bis Maria Theresia wohl nicht analysiert, aber respektiert. Seit Joseph II. war es mit dem Respekt vorbei, der Spätabsolutismus wollte die Ungarn genauso behandeln wie den Rest der Monarchie. Das misslang, einerseits wegen der schieren Größe des historischen Königreiches Ungarn, andererseits wegen des letztlich unüberwindlichen Widerstandes des so zahlreichen kleinen Adels. Der war in den ungarischen Zentrallandschaften konfessionell zu allem Überfluss außerdem dominant nicht katholisch, sondern primär calvinisch orientiert (vgl. Lhotsky 1968, 436).
Die Ungarn konnten 1867 einen magyarisch dominierten liberalen Einheitsstaat entwickeln, während „Österreich“ zwar zentralistisch blieb, aber dennoch auch etwas Föderalismus zuließ, samt dem Versprechen, dass die einzelnen „Volksstämme“ ihre Nationalität und Sprache pflegen dürften, und so weiter (vgl. dazu eine breit gefächerte Literatur, zusammengefasst etwa bei Bruckmüller 1996, bes. 237–316). Sie hatten daher auch die Chance, Schulen in ihren Muttersprachen zu besuchen, die Polen (Lemberg und Krakau) und Tschechen (Prag und zwei technische Hochschulen in Prag und Brünn) erhielten auch Hochschulen bzw. Universitäten in ihren Muttersprachen. Die „Österreicher“ wurden zwar nicht unter diesem Namen gerufen, aber sie hatten doch eine gemeinsame österreichische Staatsbürgerschaft, ebenso wie die Ungarn eine eigene ungarische Staatsbürgerschaft hatten. Die Ungarn sahen die Österreicher immer als Ausländer an, während das umgekehrt nicht im selben Ausmaß der Fall war. Man muss jedoch anmerken, dass männliche österreichische und ungarische Staatsbürger bei der gemeinsamen Armee bzw. bei den beiden gliedstaatlichen Teilarmeen, den ungarischen Honvéd bzw. bei der österreichischen Landwehr, nicht nur wehrpflichtig waren, sondern auch in der Reserve in Evidenz zu halten waren, für den Fall einer Mobilisierung. Das heißt aber, dass männliche Österreicher bzw. Ungarn im wehrpflichtigen Alter im jeweils anderen Land anders evident gehalten werden mussten als „normale“ Ausländer. 4
Noch eine Bemerkung zu den „Shakespeareschen Königreichen“ Lodomerien und Illyrien. Lodomerien hat es tatsächlich nie gegeben, man hatte es zu dem ebenso künstlichen „Galizien“ dazu erfunden, das ja bis 1772 ein Teil Polens war und dann habsburgisch wurde. Beide Namen verweisen auf mittelalterliche russische Fürstentümer (Halycz und Vladimir), die sich irgendwann in den ungarischen Königstitel verirrt hatten. Anders Illyrien: Das gab es staatsrechtlich schon, es wurde in den 1820er Jahren quasi in Nachfolge der Illyrischen Provinzen Frankreichs (1808–1814) geschaffen. Tatsächlich bestand es aus einigen getrennt verwalteten Teilen, mit Statthaltereien (Gubernien) in Laibach/Ljubljana (für Kärnten und Krain) und Triest (für das Küstenland), aber ohne irgendetwas sonstiges Gemeinsames. 1848 verschwand „Illyrien“ wieder von den Landkarten, ohne je ein eigenes staatsrechtliches Leben entwickelt zu haben (vgl. Haas 1958).
Da man „Österreicher“ nicht sagen durfte (diese Bezeichnung war reserviert nur für die Ober- und Niederösterreicher!), sollte, laut Musil, die kollektive Selbstbezeichnung nach den „Volksstämmen“ (so der Legal-Terminus) ihren Siegeszug angetreten haben. Nun, so einfach war das natürlich nicht. Die Musil’sche Freude an ironischen Formulierungen führt uns hier in die Irre – der Nationsbildungsprozess der „österreichischen“ Nationen war doch ein wenig komplizierter (vgl. Bruckmüller 1996, 237–275). Gar nicht erwähnt Musil die Kronländer, Königreiche, Herzogtümer oder was auch immer. Das ist befremdlich, weil die ihnen nachfolgenden Bundesländer im heutigen Österreich ja ein äußerst kräftiges Selbstbewusstsein entwickelten (vgl. ebd., 155–199). Aber gegen Ende der Monarchie, im ersten Jahrzehnt der 20. Jahrhunderts, war, wie dies Karl Renner 1917 formulierte, tatsächlich bereits „die Nation […] an die Stelle des Landes getreten […]“ (zit. nach Stourzh 1991, 66). 5
Musil hat also in seiner ironischen Darstellung die staatsrechtlichen und gefühlsmäßigen Realitäten immer wieder – aber doch nicht immer! – in geschickten Formulierungen treffend umrissen. Dass die „Österreicher“ „keinen Begriff von sich hatten“, war wohl die Folge der österreichischen Staatstheorie der gemeinsamen Doppelmonarchie, die neben Ungarn die anderen (im Reichsrat vertretenen) Königreiche und Länder möglichst nicht als eigenen Staat auffassen wollte, sondern alle diese Länder ebenso wie Ungarn als Teile einer dritten Staatlichkeit, des (k. u. k.) „Über-Staates“ österreichisch-ungarische Monarchie ansahen, und diesem galt, soweit vorhanden, der Patriotismus der Bewohner der „österreichischen Reichshälfte“. Dass die Ungarn diese Staatstheorie ebenso vehement ablehnten, ist heute in Österreich weitgehend unbekannt. Für die nationalistischen unter ihnen (und das waren fast alle politisch Interessierten) gab es eben nur einen ungarischen Staat, der mit den übrigen (belanglosen) Territorien des ungarischen Königs in einem gewissen, nach Möglichkeit immer weiter zu lockernden Verhältnis stand. Der gemeinsame Kriegsminister stand nach dieser Auffassung nicht über den Regierungen in Wien und Budapest, sondern das Kriegsministerium war das gemeinsame Ministerium der ansonsten ganz „fremd“ nebeneinander bestehenden Staaten Ungarn und „Habsburgs nichtungarischer Rest“. Musil vertrat dagegen, wir haben oben schon darauf hingewiesen, bewusst oder unbewusst den „österreichischen“ Standpunkt einer gemeinsamen Staatlichkeit (vgl. Stourzh 1991, passim)
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