Kakanien oder ka Kakanien?

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Der gut 30 Jahre alte Befund, dass Kakanien «als eine Metapher für den Zustand der Zeit ungleicher Bewegungsabläufe, inhomogener gesellschaftlicher und politischer Entwicklungen sehr produktiv sein» könne (Josef Strutz), scheint auch 100 Jahre nach der Republikwerdung Österreichs 1918 – und unabhängig von jeder expliziten Bezugnahme auf Robert Musils in den 1920er Jahren konzipierte Beschreibung des Begriffs in seinem 1930 erschienenen Magnum opus «Der Mann ohne Eigenschaften» – nichts an Triftigkeit eingebüßt zu haben. Von der ungebrochenen Attraktivität der Bezeichnung im Kontext sowohl literaturwissenschaftlicher wie geschichts-, gesellschafts- und politikwissenschaftlicher Untersuchungen zeugt eine Vielzahl von einschlägigen Veröffentlichungen, die sie dem Namen oder der Sache nach im Titel führen: Der Ausdruck ist als Schlagwort weit über den Literaturbetrieb im engeren Sinne und auch über den akademischen Diskurs hinaus in den wenn nicht umgangs-, so doch alltagssprachlichen Gebrauch diffundiert.
Der nur halb unernsten Beobachtung, dass zumindest lautlich kein weiter Weg von k.(u.)k. = kaiserlich (und) königlich Österreich zu unverhältnismäßig, ja statistisch auffällig vielen Regierungsspitzen und hohen Staatsämtern der Nachkriegszeit führt – ob Kirchschläger und Kreisky, Klestil und Klima oder Kurz und Kickl –, folgt die ganz und gar unheitere Frage nach etwaigen Kontinuitäten oder Wiederholungen anderer Art, vor allem solchen, die kultur- bzw. mentalitätsgeschichtlich relevant sind:
Wieviel Kakanien steckt auch heute noch in Österreich? Was lehrt uns der Blick auf Kakanien in Geschichte und Gegenwart? Wie lernen wir einen zugleich selbstbewussten und kritischen Umgang mit unserer kakanischen (Nicht-)Identität? Und wie lehren wir andere einen solchen Umgang, sowohl im Sinne einer bewussten Reflexion und lückenlosen Aufarbeitung der (eigenen) Geschichte als auch einer mündigen Auseinandersetzung mit der politischen Gegenwart?

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Artur R. Boelderl (Hrsg.)

Kakanien oder ka Kakanien?

Österreichs Geschick 1918–2018 im Spiegel der Literaturen

SCHRIFTENREIHE LITERATUR

Institut für Österreichkunde, Wien

Institut für Germanistik AECC/ Abteilung Fachdidaktik, AAU Klagenfurt

Herausgegeben von

Nicola Mitterer, Hajnalka Nagy und Werner Wintersteiner

Band 31

Kakanien oder ka Kakanien?

Österreichs Geschick 1918–2018

im Spiegel der Literaturen

Herausgegeben von

Artur R. Boelderl

Inhalt Einleitung Einleitung Artur R Boelderl In Ruh lassen ein - фото 1

Inhalt

Einleitung Einleitung

Artur R. Boelderl

„In Ruh’ lassen“: ein kakanischer Modus vivendi

Literarische Beiträge

Bettina Balàka

Von Keuschlern und Kaisern

Pavol Rankov

Mütter (Auszug)

Kakanien im Wandel – Annäherungen

Ernst Bruckmüller

Musils Kakanien – die Frage nach dem Realitätsgehalt eines literarischen Topos

Peter Becher

Kakanische Nachdenklichkeiten oder die allmähliche Verwandlung eines historischen Phänomens

Kakanien im Detail – gestern, heute …?

Alfred Pfoser

Kaiserstadt ohne Kaiser

Martin A. Hainz

Die Welt von Gestern – (post-)kakanische Zweigstellen.

Oder: 1918, Logik und Hoffnung des Ausnahmezustands

Andrei Corbea-Hoişie

„Das Ende eines großen Reiches“.

Die Nachkriegsaussage des vormals k.k. Universitätsprofessors Eugen Ehrlich

Andy Jelčić

Die kroatische Kakanien-Utopie

Walter Fanta

Arnautovic spricht mit Musil über Sport, Kunst und Moral

Kakanien im Detail – … heute, morgen?

Walter Denscher

Vom k. k. Schulbuchverlag zum elektronischen Schulbuch

Edit Király

Kakanien im Koffer.

Reisen von Ransmayr, Pollack und Gauß auf einen unentdeckten „Kontinent“

Autorinnen und Autoren

Personenregister

Michael Murschetz 2020 für Der Standard Einleitung In Ruh lassen ein - фото 2

© Michael Murschetz 2020 für Der Standard

Einleitung

„In Ruh’ lassen“:

ein kakanischer Modus vivendi

Artur R. Boelderl

„Erde aus Ungarn“ – „Erde aus Polen“ – „Erde aus Kärnten“ – „Slowenische Erde“ – „Tschechische Erde“. Offiziere aus allen Teilen der Monarchie verabschieden sich vom toten Oberst. Zuletzt schüttet der jüdische Regimentsarzt Erde auf den Sarg: „Erde aus – aus – Österreich.“

An diese Szene aus Franz Theodor Csokors 1936 veröffentlichtem und 1937 am Burgtheater uraufgeführtem Theaterstück 3. November 1918 hat der Jurist und Journalist Stefan May in einem am nämlichen Tag des Jahres 2018 in der Wiener Zeitung erschienenen Artikel erinnert, der mit Grundton Melancholie überschrieben ist (vgl. May 2018). Die Szene aus dem Stück, dessen Handlung in einem militärischen Rekonvaleszentenheim in den Kärntner Karawanken spielt und den vergeblichen Kampf des Artillerieobersts von Radosin für die Erhaltung der Österreichisch-Ungarischen Monarchie sowie dessen Selbstmord schildert, spiegle das Ende der Habsburger-Monarchie wider, bei deren Auseinanderbrechen die Völker eigene, neue Staaten bildeten.

Fraglich bleibt bei Darstellungen dieser Art freilich, welcher Status dem Gebilde, dessen Auseinanderbrechen konstatiert wird, zuvor zugekommen ist: Der lange Zeit unhinterfragten nostalgischen Retrospektive, ebendiese Völker hätten in der k.u.k. Monarchie im Großen und Ganzen friedlich zusammen gelebt, steht die konträre Beobachtung gegenüber, der der rumänisch-deutsche Schriftsteller Richard Wagner pointiert Ausdruck verliehen hat: „Man lebte nicht friedlich zusammen, wie der dem heutigen Klischee angepasste Mythos nahelegt, man ging sich vielmehr erfolgreich aus dem Weg.“ (Zit. nach May 2018) Dass dieses Sich-aus-dem-Weg-Gehen gleichwohl – oder gerade weil es der sozialromantischen Illusion des Miteinanderlebens unterschiedlicher Gruppen entsagt – als erfolgreich apostrophiert werden kann, gibt nicht nur, aber auch dann zu denken, wenn man es als Modell auf die gegenwärtige Situation in Europa zu übertragen sich anschickt.

Just dies hat in einem im Rahmen der von Altbundespräsident Heinz Fischer koordinierten Gedenkfeierlichkeiten Österreich100: 1918–2018 entstandenen kurzen Dokumentationsfilm niemand Geringerer als die nachmals als Organisatorin des Opernballs breitenwirksam tätig gewordene Schauspielerin Lotte Tobisch-Labotýn (1926–2013) angeregt, selbst durch ihre familiäre Herkunft eine gleichsam exemplarisch heutige Repräsentantin dieser Welt von Gestern, als sie zu Protokoll gab, man müsse die Anderen ja nicht lieben und auch nicht gemeinsam mit ihnen leben, solange man sie aber einfach in Ruh’ lasse. Gerade angesichts der salbungsvollen Reden zum 100. Jahrestag der Republiksgründung, die sich – mit wohltuender Ausnahme der Kärntner slowenischen Schriftstellerin und Festrednerin Maja Haderlap – allesamt darin gefielen, diese Chimäre des Gemeinsamen zu beschwören, ohne auch nur im mindesten anzugeben, worin es denn nun eigentlich bestehe noch wie es sich jenseits der rhetorischen Anrufung politisch konkret herstellen oder stärken ließe, mutet der von Tobisch im dezidierten Rückblick auf das lange Zeit gültige Erfolgsgeheimnis sowohl zunächst der Habsburger-Monarchie als auch später der jungen Zweiten Republik anempfohlene pragmatisch-nüchterne Zugang vergleichsweise rationaler und jedenfalls realistischer an.

Mit diesen ausgewählten Schlaglichtern und Hinweisen sei einleitend lediglich der für die Konzeption des Bandes – neben dem äußerlichen Zufall der 8er-Jubiläen, die sich 2018 mehrten: 1918, 1938, 1968 (man könnte ihnen auch 1848 oder 1948 zurechnen) – initialzündende Befund des Literaturwissenschaftlers Josef Strutz unterstrichen, dass Kakanien „als eine Metapher für den Zustand der Zeit ungleicher Bewegungsabläufe, inhomogener gesellschaftlicher und politischer Entwicklungen sehr produktiv sein“ könne (Strutz 1987, 14 f.). Dieser gut 30 Jahre alte Befund scheint auch in den Jahren 2018 ff., 100 und mehr Jahre nach der Republikwerdung Österreichs 1918 und unabhängig von jeder expliziten Bezugnahme auf Musils in den 1920er Jahren konzipierte Beschreibung des Begriffs in seinem 1930 erschienenen Magnum opus Der Mann ohne Eigenschaften , nichts an Triftigkeit eingebüßt zu haben. Von der ungebrochenen Attraktivität der Bezeichnung im Kontext nicht nur literaturwissenschaftlicher, sondern auch (zeit)geschichts- und gesellschafts-wie politikwissenschaftlicher Untersuchungen zeugt eine Vielzahl von einschlägigen Veröffentlichungen, die sie dem Namen oder der Sache nach im Titel führen, der Ausdruck ist als Schlagwort weit über den Literaturbetrieb im engeren Sinne und auch über den akademischen Diskurs hinaus in den wenn nicht umgangs-, so doch alltagssprachlichen Gebrauch diffundiert.

Der nur halb unernsten Beobachtung, dass zumindest lautlich kein weiter Weg von k.(u.)k. = kaiserlich (und) königlich Österreich zu unverhältnismäßig, um nicht zu sagen: statistisch nachgerade auffällig vielen Regierungsspitzen und hohen Staatsämtern der Nachkriegszeit führt – ob Kirchschläger und Kreisky, Klestil und Klima oder Kurz und Kickl bzw. aktuell (2020) Kurz und Kogler –, 1 folgt die ganz und gar unheitere Frage nach allfälligen Kontinuitäten anderer Art, vor allem solchen, die kultur-bzw. mentalitätsgeschichtlich relevant sind. Anders ausgedrückt:

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