Anna seufzte und senkte den Kopf. Es gab keine Rettung.
Ein paar Tage später brachten sie die erste Dose Kondensmilch für Alexej. Sie stammte von der amerikanischen Kriegshilfe und war riesig, ich schätze, sie fasste fünf Liter. Dank der Milch konnte ich meine alten Schulden aus jenen Wochen begleichen, als die Gefangenen mir Beeren aus dem Wald mitbrachten. Ein halber Napf süßer fetter Milch hatte einen ungeheuren Wert. Anna tauschte sie gegen Zucker, Brot und Seife, wir nahmen auch Tabak an, den wir uns für spätere Handelsgeschäfte beiseitelegten.
Als die Frauen mit ihren Bechern anstanden, drängelten sich Tanja und Jelena nach vorn. Die Hündinnen wollten auch Milch.
„Mach voll“, kommandierte Jelena und hielt Anna ihren Becher hin.
„Und was gibst du dafür?“, fragte Anna ruhig.
„Waaas?“ Jelena sah sie mit großen Augen an. Dann drehte sie sich zu Tanja um.
„Hast du sie gehört?“
„Mamachen“, Tanjas Augen funkelten vergnügt, „soll ich ihr die Hand brechen?“
„Wenn du mir die Hand brechen willst, werde ich dich nicht daran hindern“, sagte Anna und zuckte die Schultern. „Ich möchte euch beiden vorher aber eine Frage stellen. Glaubt ihr wirklich, dass Lora Liedchen umgebracht hat? Ich nicht! Wenn nun aber eine andere Liedchen getötet hat, dann ist sie noch immer unter uns. Und wir wissen ja alle“, Anna ließ ihren Blick über die Frauen schweifen, „warum Liedchen sterben musste. Sie wollte dieses Kind beiseitebringen. Jene, die sie umgebracht hat, tat es, um Alexej zu schützen. Wer von uns versucht, dem Jungen etwas anzutun, kann wie Liedchen enden.“
„Wer hat Liedchen aber dann umgebracht? Du doch nicht etwa?“, lachte Tanja.
„Ich bestimmt nicht, aber mit Sicherheit eine andere von uns“, schloss Anna.
„Ich kapier nicht, warum du jetzt davon anfängst“, sagte Jelena.
„Wir sind gekommen, um uns Milch von euch zu kaufen, genau wie die anderen Frauen. Sag, was du dafür willst und wir werden’s dir geben.“
„Wir tauschen gegen Tabak“, ging Anna zum Geschäftlichen über.
Tanja schnaubte mürrisch, doch Jelena legte ihr die Hand auf die Schulter. Dieses Mal hatte Anna die Hündinnen bezwungen, doch mir war klar, dass wir uns weiter vor ihnen in Acht nehmen mussten. Sie waren noch genauso gefährlich wie vor Liedchens Tod – Jelena durch ihre Gerissenheit und Tanja durch ihre animalische Kraft.
Die amerikanische Kondensmilch schmeckte allen außer Alexej. Ich gab sie ihm tröpfchenweise in den Mund und schmierte damit sogar meine Brustwarze ein, doch sobald die Milch an seine Zunge kam, verzog der Kleine das Gesicht. Ich versuchte, die Milch mit Wasser zu verdünnen, sie warm zu machen, zum Schluss gab ich sogar eine Prise Salz hinzu, doch Alexej lehnte alle meine Kostproben ab.
Die Zusatznahrung des Arztes war dennoch nicht umsonst. Ich trank Alexejs Milch und mir schien wirklich, dass ich dadurch mehr Milch bildete. Leider kam schon in der Woche drauf eine viel kleinere Dose aus Zóny an. Neben dem eigenen Napf blieb nichts für Tauschgeschäfte übrig.
Die Blechbüchsen fanden im Lager als Töpfe Verwendung. Die erste hatte ich als Weitling behalten, um darin die Lappen auszuwaschen, die ich als Windeln nutzte. Es dauerte nicht lange und Anna setzte bei den Frauen auch unseren Tabak um. Sie tauschte ihn gegen Hagebutten ein, die sie für Tee trocknete. Im Winter würde das Kind Vitamine brauchen.
Aus: Pavol Rankov (2011): Matky. Banská Bystrica: Edition Ryba, 102–109. Aus dem Slowakischen von Ines Sebesta. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Übersetzerin. Die deutsche Übersetzung des Romans erscheint 2020 unter dem Titel MÜTTER. Der Weg der Wölfin durch den Gulag beim Berliner Verlag Anthea.
Kakanien im Wandel – Annäherungen
Musils Kakanien
Die Frage nach dem Realitätsgehalt eines literarischen Topos
Ernst Bruckmüller
Musil als Quelle?
Ob die literarische Schilderung Kakaniens im achten Kapitel des Mann ohne Eigenschaften von Robert Musil eher als realistische Schilderung des alten Österreich (oder Österreich-Ungarn?) oder eher als literarische Überhöhung bzw. Verfremdung anzusehen ist, ist für Germanisten nicht besonders relevant. Für Historiker (und -innen) ist diese bekannte Stelle hingegen eine nur allzu große Versuchung, sie zu zitieren – man erspart sich angesichts der Eleganz der Musil’schen Sätze eigene Formulierungsmühsal. Der Autor dieser unmaßgeblichen Zeilen ist dieser Versuchung selbst erlegen (Bruckmüller 2001, 282–284).
Allerdings hat uns Musil selbst ein paar wichtige Warnschilder aufgestellt. So versichert er an einer Stelle, dass „weder an dieser Stelle noch in der Folge der glaubwürdige Versuch unternommen werden wird, ein Historienbild zu malen und mit der Wirklichkeit in Wettbewerb zu treten“ (Musil 2016a, 270; vgl. Wolf 2011, 32). Und an anderer Stelle betont Musil, dass ihn „die reale Erklärung des realen Geschehens“ nicht interessiere (Musil 2015a; vgl. Wolf 2011, 32). Später (1941) gestand Musil selbst, der Roman sei ihm doch unter der Hand „ein historischer Roman“ geworden (Musil 2015b; vgl. Wolf 2011, 32). Zu dieser Zeit war Kakanien ja angesichts des von Hitler ausgelösten Zweiten Weltkrieges und unfassbarer Gräuel aller Art schon sehr weit weg von der realen Welt der damaligen Europäer. Die den Hintergrund für Musils so zahlreiche verschiedene menschliche Typen und Charaktere bildende Habsburgermonarchie war durch den zweiten, gegenüber 1918 erheblich schlimmeren zivilisatorischen Bruch von 1933/45 nur mehr als relativ harmlose, leicht skurrile Erscheinung erinnerbar.
Auch der Doyen der österreichischen Geschichtsforschung, Gerald Stourzh, warnte übrigens davor, Musil unbesehen als ,Quelle‘ für die Analyse der Gesellschaft und des politischen Systems der Habsburgermonarchie zu verwenden (vgl. Stourzh 1991, 64). Er betonte, dass Musils Kakanien sehr stark aus der Wiener Sicht skizziert sei und Ungarn nur unzureichend mit einbeziehe. Stourzh versuchte dies an Hand des bekannten Diktums über den Staatsnamen zu belegen: Kakanien
nannte sich schriftlich Österreichisch-Ungarische Monarchie und ließ sich mündlich Österreich rufen; mit einem Namen also, den es mit feierlichem Staatsschwur abgelegt hatte, aber in allen Gefühlsangelegenheiten beibehielt, zum Zeichen, daß Gefühle ebenso wichtig sind wie Staatsrecht und Vorschriften nicht den wirklichen Lebensernst bedeuten. (Musil 2016a, 49)
Stourzh fügt hinzu: In Budapest sahen die Dinge anders aus; es genüge, Péter Hanáks Darstellung der historischen Parallelaktion von 1898 in Ungarn, des Widerspiels von fünfzigjährigem Revolutionsgedenken und verkrampftem Thronbesteigungsjubiläum Franz Josephs zu lesen, um dies zu sehen (vgl. Stourzh 1991, 64). Stourzh kritisiert ferner – in einer Fußnote – die bekannte Formulierung Musils zum kakanischen Parlamentarismus:
Man hatte ein Parlament, welches so gewaltigen Gebrauch von seiner Freiheit machte, daß man es gewöhnlich geschlossen hielt; aber man hatte auch einen Notstandsparagraphen, mit dessen Hilfe man ohne das Parlament auskam, und jedesmal, wenn alles sich schon über den Absolutismus freute, ordnete die Krone an, daß nun doch wieder parlamentarisch regiert werden müsse. (Musil 2016a, 49)
Doch gab es diesen Notstandsparagraphen (Art. 14. des Gesetzes über die Reichsvertretung) eben nur in den im Reichsrat vertretenen Königreichen und Ländern, also in „Cisleithanien“ – aber nicht in Ungarn! (Vgl. Stourzh 1991, 64) Wie auch immer – das Kakanien-Kapitel und spätere Teile des Buches, die sich mit Problemen des kollektiven Bewusstseins in jenem eigentümlichen Staatswesen befassten, sind nicht die Frucht essayistischer Schnellschüsse, sondern Ergebnisse eines komplexen und langwierigen Formulierungsprozesses, in dem es stets darum ging, auf den jeweiligen Sachverhalt passende Beschreibungen zu finden. Musil war ein hervorragender Kenner jener untergegangenen Welt. Er wusste daher sehr gut, worüber er schrieb.
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