Es bleibt eine wesentliche, von Stourzh bereits angedeutete Unschärfe: Bei Musil gibt es nur ein Kakanien. Es waren aber in Wahrheit zwei: die österreichisch-ungarische Monarchie, die nach außen einheitlich auftrat (wenigstens prinzipiell, nicht immer) und deren Institutionen mit dem Kürzel „k.u.k.“ versehen waren (der Hof, die gemeinsame Armee, das gemeinsame diplomatische Corps waren „kaiserlich und königlich“), und der westliche Teil dieser Monarchie, „die im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder“, deren Institutionen mit „k.k.“ (kaiserlich-königlich) abgekürzt wurden. Musil widmet sich zumeist dieser Ländergruppe, die seit 1915 auch offiziell „Österreich“ hieß, thematisiert aber in verschiedenen Abschnitten auch das Gemeinsame (oder nicht Gemeinsame) der gemeinsamen Monarchie.
Die Entwicklung von Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur der Habsburgermonarchie in jenen knappen sieben Dekaden zwischen 1849 und 1918 ist in den letzten Jahrzehnten zu einem bevorzugten Forschungsgegenstand zahlreicher Historiker geworden. Ich erwähne hier vor allem das vielbändige Werk Die Habsburgermonarchie 1848–1918 , das von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften herausgegeben wurde und wird (vgl. Wandruszka/Urbanitsch 1973–1993 bzw. Rumpler/ Urbanitsch 2000 ff.). Einen neuen Interpretationsversuch legte Pieter Judson (2017) vor. Und so weiter. Wir wollen uns nun einigen Aspekten der historischen kakanischen „Realität“ (die ja immer nur in Anführungszeichen möglich ist) und ihren Musil’schen Brechungen zuwenden.
Schwarz-gelb und Rot-weiß-grün
Im Kapitel 42 des Mann ohne Eigenschaften thematisiert Musil das österreichischungarische „Staatsgefühl“:
Dieses österreichisch-ungarische Staatsgefühl war ein so sonderbar gebautes Wesen, daß es fast vergeblich erscheinen muß, es einem zu erklären, der es nicht selbst erlebt hat. Es bestand nicht etwa aus einem österreichischen und einem ungarischen Teil, die sich, wie man dann glauben könnte, ergänzten, sondern es bestand aus einem Ganzen und einem Teil, nämlich aus einem ungarischen und einem österreichisch-ungarischen Staatsgefühl, und dieses zweite war in Österreich zu Hause, wodurch das österreichische Staatsgefühl eigentlich vaterlandslos war. Der Österreicher kam nur in Ungarn vor, und dort als Abneigung; daheim nannte er sich einen Staatsangehörigen der im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder der österreichisch-ungarischen Monarchie, was das gleiche bedeutet wie einen Österreicher mehr einem Ungarn weniger diesen Ungarn, und er tat das nicht etwa mit Begeisterung, sondern einer Idee zuliebe, die ihm zuwider war, denn er konnte die Ungarn ebensowenig leiden wie die Ungarn ihn, wodurch der Zusammenhang noch verwickelter wurde. Viele nannten sich deshalb einfach einen Tschechen, Polen, Slowenen oder Deutschen, und damit begann jener weitere Zerfall und jene bekannten „unliebsamen Erscheinungen innenpolitischer Natur“, wie sie Graf Leinsdorf nannte, die nach ihm „das Werk unverantwortlicher, unreifer, sensationslüsterner Elemente“ waren, die in der politisch zu wenig geschulten Masse der Bewohner nicht die nötige Zurückweisung fanden. (Musil 2016a, 269 f.)
Und, nach der Versicherung, der Autor wolle kein Historienbild malen (wir haben oben darauf hingewiesen!), verweist er darauf,
[…] daß die Geheimnisse des Dualismus (so lautete der Fachausdruck) mindestens ebenso schwer einzusehen waren wie die der Trinität; denn mehr oder minder überall gleicht der historische Prozeß einem juridischen mit hundert Klauseln, Anhängseln, Vergleichen und Verwahrungen, und nur darauf sollte die Aufmerksamkeit gelenkt werden. Ahnungslos lebt und stirbt der gewöhnliche Mensch zwischen ihnen, aber ganz und gar zu seinem Heil, denn wenn er sich darüber Rechenschaft geben wollte, in was für einen Prozeß, mit welchen Anwälten, Spesen und Motiven er verstrickt ist, könnte ihn wahrscheinlich in jedem Staat der Verfolgungswahnsinn packen. (Musil 2016a, 270 f.)
Ja, so gemein konnte Musil sein – zuerst macht er uns neugierig, wie es mit diesem „Staatsgefühl“ wirklich aussah, dann flüchtet er sich in seine glänzende Ironie. Und wir stehen da und wissen wieder nichts. Tatsächlich gab es ja damals noch keine entwickelte Sozialforschung, und anders als im späten 20. Jahrhundert haben wir keine Ergebnisse von Umfragen über österreichisches, ungarisches oder gar österreichisch-ungarisches Staats-oder Nationalbewusstsein. Wir können daher nur in der überreichen damaligen Publizistik oder in den zahllosen seither erschienenen Büchern nachlesen, was es zu diesem Thema alles gibt, und das ist in der Tat sehr viel. Eine recht präzise Zusammenfassung bietet Gerald Stourzh in dem von uns schon eingangs zitierten Aufsatz. Danach gab es für praktisch alle Ungarn, die ein „Staatsgefühl“ hatten, immer nur Ungarn als Gegenstand ihrer Identifikation und Verehrung. Auf Grund einer verwickelten Vorgeschichte musste dieses heilige Ungarn 1867 einen König akzeptieren, dessen Armee noch 1849 gemeinsam mit den Russen die freiheitsliebenden Ungarn niedergezwungen hatte. Nachdem jener aber einige Kriege verloren hatte, musste er sich zu Verhandlungen mit den Ungarn bequemen, die zum so genannten „Ausgleich“ führten, worauf ihn die Ungarn krönen ließen und weiterhin als legitimen König akzeptierten. Dass dieser König daneben auch noch Kaiser von Österreich war und neben Ungarn noch eine Reihe anderer Königreiche und Länder regierte, konnte man vernachlässigen, viel schlimmer für den ungarischen Nationalstolz war aber die Tatsache, dass man im „Ausgleich“ einige mit jenen Ländern gemeinsame Institutionen zugestanden hatte, etwa eine gemeinsame Außenpolitik und eine gemeinsame Armee. Diese Gemeinsamkeiten zu reduzieren oder ganz zu beseitigen, war seit 1867 das Ziel der leidenschaftlichsten Ungarn, die sich gerade deswegen bei Wahlen auch immer mehr durchsetzten. 1
Der Frage des kollektiven Bewusstseins in Kakanien widmet sich Musil auch in einem weiteren Kapitel (Nr. 98) mit dem schönen Titel ,Aus einem Staat, der an einem Sprachfehler zugrundegegangen ist‘:
Man tut heute so, als ob der Nationalismus lediglich eine Erfindung der Armeelieferanten wäre, aber man sollte es auch einmal mit einer erweiterten Erklärung versuchen, und zu einer solchen lieferte Kakanien einen wichtigen Beitrag. Die Bewohner dieser kaiserlich und königlichen kaiserlich königlichen Doppelmonarchie fanden sich vor eine schwere Aufgabe gestellt; sie hatten sich als kaiserlich und königlich österreichisch-ungarische Patrioten zu fühlen, zugleich aber auch als königlich ungarische oder kaiserlich königliche österreichische. Ihr begreiflicher Wahrspruch angesichts solcher Schwierigkeiten war „Mit vereinten Kräften!“ Das hieß viribus unitis. Die Österreicher brauchten aber dazu weit größere Kräfte als die Ungarn. Denn die Ungarn waren zuerst und zuletzt nur Ungarn, und bloß nebenbei galten sie bei anderen Leuten, die ihre Sprache nicht verstanden, auch für Österreich-Ungarn; die Österreicher dagegen waren zuerst und ursprünglich nichts und sollten sich nach Ansicht ihrer Oberen gleich als Österreich-Ungarn oder Österreicher-Ungarn fühlen, – es gab nicht einmal ein richtiges Wort dafür. Es gab auch Österreich nicht. Die beiden Teile, Ungarn und Österreich paßten zu einander wie eine rot-weiß-grüne Jacke zu einer schwarz-gelben Hose; die Jacke war ein Stück für sich, die Hose aber war der Rest eines nicht mehr bestehenden schwarz-gelben Anzugs, der im Jahre achtzehnhundertsiebenundsechzig zertrennt worden war. Die Hose Österreich hieß seither in der amtlichen Sprache „Die im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder“, was natürlich gar nichts bedeutete und ein Name aus Namen war, denn auch diese Königreiche, zum Beispiel die ganz Shakespeareschen Königreiche Lodomerien und Illyrien gab es längst nicht mehr und hatte es schon damals nicht mehr gegeben, als noch ein ganzer schwarz-gelber Anzug vorhanden war. Fragte man darum einen Österreicher, was er sei, so konnte er natürlich nicht antworten: Ich bin einer aus den im Reichsrate vertretenen Königreichen und Ländern, die es nicht gibt, – und er zog es schon aus diesem Grunde vor, zu sagen: Ich bin ein Pole, Tscheche, Italiener, Friauler, Ladiner, Slowene, Kroate, Serbe, Slowake, Ruthene oder Wallache, und das war der sogenannte Nationalismus. Man stelle sich ein Eichhörnchen vor, das nicht weiß, ob es ein Eichhorn oder eine Eichkatze ist, ein Wesen, das keinen Begriff von sich hat, so wird man verstehen, daß es unter Umständen vor seinem eigenen Schwanz eine heillose Angst bekommen kann; in solchem Verhältnis zu einander befanden sich aber die Kakanier und betrachteten sich mit dem panischen Schrecken von Gliedern, die einander mit vereinten Kräften hindern, etwas zu sein. Seit Bestehen der Erde ist noch kein Wesen an einem Sprachfehler gestorben, aber man muß wohl hinzufügen, der österreichischen und ungarischen österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie widerfuhr es trotzdem, daß sie an ihrer Unaussprechlichkeit zugrunde gegangen ist. (Musil 2016b, 218–220)
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