– Wieviel Kakanien steckt im heutigen Österreich? Wieviel in den Nachfolgestaaten der Habsburger-Monarchie?
– Welche kakanischen Anteile weisen Herr und Frau Österreicher immer noch (oder wieder oder immer) auf, welche die Nachbarinnen und Nachbarn?
– Auf welchen Ebenen tradiert sich, was mit und seit Musil mit der Metapher „Kakanien“ bezeichnet wird, bis in die österreichische und europäische Gegenwart, wo liegen Kakaniens Grenzen in einem „vereinten“ Europa, dessen Fragilität sich kaum leugnen lässt?
– Was lehrt uns der Blick auf Kakanien in Geschichte und Gegenwart?
– Wie lernen wir einen zugleich selbstbewussten und kritischen Umgang mit unserer kakanischen (Nicht-)Identität?
– Und wie lehren wir andere einen solchen Umgang, sowohl im Sinne einer bewussten Reflexion und lückenlosen Aufarbeitung der (eigenen) Geschichte als auch einer mündigen Auseinandersetzung mit der politischen Gegenwart?
Geprüft wird in den hier versammelten Beiträgen daher – im Gefolge des erwähnten äußeren Anlasses (100-Jahr-Feier der Republik 2018) ebenso wie einer gleichzeitig registrierten sachlichen Notwendigkeit (angesichts der aktuellen politischen Entwicklungen in Österreich insbesondere, aber auch in Europa allgemein) folgend – die von Musil beanspruchte exemplarische Geltung des von ihm entworfenen und mit der Bezeichnung „Kakanien“ versehenen Chronotopos (vgl. Wolf 2011, 604), und zwar im Blick auf die zeitlich wie geographisch verstreuten Spiegelungen, die derselbe in den (keineswegs einsprachigen noch sonst einheitlichen) Literaturen des ehemaligen Habsburgerreiches erfahren hat und erfährt. Von Interesse sind dabei nicht so sehr die wissens- (vgl. ebd.) denn vielmehr die diskurs geschichtlichen Möglichkeitsbedingungen dessen, wofür die Metapher steht. Diese sind es nämlich, die eine (nicht nur im engeren Sinn diskurs-, sondern beispielsweise auch psycho- und sozio-)analytische Betrachtung der Themen- und Text-Konstellation „Kakanien“ in ihrer gesamten Tragweite erlauben, was die Frage nach deren Kontinuität oder Diskontinuität zwischen 1918 und heute betrifft.
Der Fokus des Bandes liegt aus diesem Grund weniger auf (ob von ihrer Entstehung her älteren oder jüngeren) ,literarischen Streifzügen durch eine versunkene Welt‘ (vgl. Lipiński 2000) als vielmehr auf den ,kakanischen (Kon-)Texten‘ (vgl. Becher 2014) einer in manchen Aspekten alles andere als vergangenen Epoche – einer Epoche, die vielleicht unter unser aller Augen fröhliche Urständ’ zu feiern sich anschickt. Damit folgt der Band im Wesentlichen der gleich betitelten 58. Literaturtagung des Instituts für Österreichkunde, die unter der wissenschaftlichen Leitung des Herausgebers von 15. bis 17. November 2018 im Hippolyt-Haus St. Pölten gemeinsam mit der Abteilung für Fachdidaktik des Instituts für Germanistik AECCan der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt und in Kooperation mit dem Robert-Musil-Institut für Literaturforschung/Kärntner Literaturarchiv ebenda abgehalten wurde.
Diesen einleitenden Bemerkungen folgen zwei literarische Beiträge der beiden Autoren, die im Zuge der Tagung aus ihren thematisch einschlägig gelagerten Werken gelesen haben: Für die Genehmigung zum Abdruck eines Kapitels aus ihrem Essay-band Kaiser, Krieger, Heldinnen. Exkursionen in die Gegenwart der Vergangenheit (Innsbruck, Wien: Haymon 2018) gilt der Wiener Schriftstellerin Bettina Balàka nicht minder herzlichster Dank wie dem in Bratislava tätigen slowakischen Schriftsteller Pavol Rankov und seiner Übersetzerin ins Deutsche, Frau Ines Sebesta, für die Erlaubnis zum Vorabdruck eines Auszugs aus dem im Original 2011 erschienenen Roman Matky (Banská Bystrica: Edition Ryba). Den ersten Teil der wissenschaftlichen Beiträge unter der Rubrik Kakanien im Wandel – Annäherungen eröffnet Ernst Bruckmüllers Aufsatz Musils Kakanien – die Frage nach dem Realitätsgehalt eines literarischen Topos , worin der Referent das nämliche Kapitel in Musils Mann ohne Eigenschaften – sonst gern als reale Beschreibung jener versunkenen Welt interpretiert – zum Anlass intensiver Reflexion nimmt. Unter anderem erinnert er daran, dass auch die vorgeblich so neutrale Beschreibung jenes eigenartigen Staatswesens immer durch die Musil’sche Ironie gebrochen ist, bevor er als Belege dafür die Beschreibung der vielen Charaktere einer Person sowie das Nicht-Zusammenpassen von Österreich und Ungarn als Gewand-Gleichnis diskutiert. Im zweiten Beitrag befasst sich Peter Becher unter dem Titel Kakanische Nachdenklichkeiten oder die allmähliche Verwandlung eines historischen Phänomens mit dem Wandel der Bilder von der frühen staatslegitimierenden Bezugnahme auf die Donaumonarchie über das Wechselspiel von nostalgischer Identifikation und nationaler Distanzierung bis zur Etablierung einer hybriden Bildrealität, die unauflösbar fiktionale und rekonstruierbare Elemente mischt. Während die quellenkritisch legitimierte Diskussion der Wissenschaft (Rauchensteiner, Suppan, Clark, Judson) unvermindert anhalte und ein komplexes Bild der Donaumonarchie vermittle, so Becher, finde zugleich in der Öffentlichkeit ein fröhlich beschwingter Substanzverlust statt. Dabei würden die wissenschaftlich erarbeiteten Bilder durch die Dynamik der medialen Entwicklung und die Wirkmächtigkeit touristischer Inszenierungen ebenso subversiv unterlaufen wie suggestiv überformt. Auf die schriftliche Fassung des Vortrags Der lange Schatten Kakaniens. Zur literarischen Utopie „Mitteleuropas“ , der diese erste Rubrik beschlossen hätte, musste für die Drucklegung leider verzichtet werden; in ihm warf Vahidin Preljević einen neuen Blick auf die in die Jahre gekommene Diskussion über „Mitteleuropa“, wie sie in den 1980er Jahren geführt wurde. Auch den Zeitgenossen sei aufgefallen, dass die Essays von Milan Kundera und György Konrád von einem Widerspruch gekennzeichnet sind: Einerseits setzten sie sich für die Befreiung kleiner Nationen vom (sowjetischen) „Imperium“ ein, andererseits diene ein älteres Imperium, das habsburgische, als historisches (und ästhetisches) Gegenbild zu grauen Zonen der kommunistischen Herrschaft. Tradition und Diversität gegen Gedächtnislosigkeit und Uniformität – so jedenfalls lese sich diese Gegenüberstellung. Die Narrative der „Mitteleuropäer“ bemühten dabei Motive, die seit den frühen sechziger Jahren in einem politisch relevanten Zusammenhang auftauchten: bei der Entdeckung des Prager Kreises in der tschechoslowakischen Germanistik und der „Heimkehr“ Kafkas nach Prag im Zuge der beiden Konferenzen von Liblice (1963 und 1965), die man als Auftakt des Prager Frühlings verstehen könne. Einige dieser literarischen Verbindungslinien zeichnete Preljević nach und warf dabei grundsätzlich die Frage nach der identitätspolitischen Funktionalisierung des Habsburgischen Mythos vor allem in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts auf.
Die zweite Rubrik Kakanien im Detail – gestern, heute, …? eröffnet Alfred Pfoser mit seinem Beitrag Kaiserstadt ohne Kaiser im Ausgang von der Beobachtung, dass Wien trotz der schlimmen Identitäts- und Versorgungskrise nach der Republikgründung an der Zuschreibung, eine der ganz großen Kulturmetropolen in der Welt zu sein, mit großer Kraftanstrengung festhielt. In der intellektuellen Debatte sei es jedoch nicht unwidersprochen geblieben, als die ehemalige Reichshaupt- und Residenzstadt mit aller Emphase entschlossen war zu zeigen, dass sie in der internationalen Welt weiterhin als Stadt der Künste, der Musik, der Theater, der Museen, der Verlage, der kulturellen Begegnung, als Stadt der großen Geister und des guten Geschmacks zu gelten habe. Dass bei dieser angestammten Rolle – „natürlich“, so Pfoser – auch die Ausrichtung auf den Fremdenverkehr mitgespielt habe, pointiert er zur erkenntnisleitenden Frage seiner Ausführungen: Wie umgehen mit Kultur und Kulturbetrieb, wenn es Hunger gibt und keine Kohle zum Heizen? Einen anderen Ton schlägt Martin A. Hainz in seinem Beitrag Die Welt von Gestern – (post-)kakanische Zweigstellen an. Kakanien, multiethnisch, multireligiös, multikulturell, sei ein Staat gewesen, der sich als politische Entschließung konstituiert habe, ohne zweifelhafte Legitimierung qua Natur, angestammten Lebensraum, Ethnie oder anderes. Stattdessen war es Hainz zufolge ein Staat, der – und das mache Kakanien für manche zur Proto-EU – als Projekt auf Vertragsbasis entstanden war, mit den Ironien durchsetzt, die ihm also ein Musil nicht andichtete, wann immer er Kakanien ironisch beschrieb. Und der Vollständigkeit halber müsse man nun doch hinzusetzen: Kakanien war bei all dem doch auch so dumm, dass es die Chance, die sein Imperium bot, nie erkannt habe, jedenfalls nicht hinreichend, jedenfalls nicht jene, die Gestaltungskraft gehabt hätten. Genau diese kulturelle Aufladung als Prinzip untersucht Hainz an Stefan Zweig, ein Prinzip, das Habsburg papierene Qualität verlieh: als Potential und Problem. Auf Hainz’ Referat folgen die Ausführungen von Andrei Corbea-Hoişie, der sich unter dem Titel „Das Ende eines großen Reiches“ der Nachkriegsperspektive des ehemals k.k. Univ.-Professors Eugen Ehrlich widmet, des allgemein bekannten Begründers der Rechtssoziologie, der, so der Autor, im Herbst 1919 als in Österreich plötzlich arbeitslos gewordener Ordinarius für Römisches Recht an der Franz-Josephs-Universität in Czernowitz überlegen musste, ob er in der neuen staatlichen Konstellation Europas noch einen Platz für sich und sein Wissen finden konnte. Nach einem erfolglosen Versuch, sich in der Schweiz neu zu habilitieren, entschied sich Ehrlich, nach Czernowitz zurückzukehren, um seinen alten Lehrstuhl an der neu gegründeten rumänischen Ferdinands-Universität wieder in Besitz zu nehmen, woran er indes scheitern sollte. In dem Jahr aber, das er in Bukarest verbrachte, um auf eine endgültige Entscheidung zu seinen Gunsten zu warten, verfasste er eine Denkschrift Sfîrşitul unei mari împărăţii („Das Ende eines großen Reiches“), in welcher der als habsburgtreu bekannte Rechtssoziologe sich bemühte, die Ursachen der österreichischen Katastrophe im Ersten Weltkrieg zu eruieren. Ehrlichs diesmal gegenüber der habsburgischen Politik sehr kritische Haltung analysiert Corbea-Hoişies Aufsatz darauf hin, ob es sich nur um ein Anpassungsmanöver an den Bukarester Kontext gehandelt habe oder um mehr und Anderes. Sodann begibt sich Andy Jelčić unter dem Titel Die kroatische Kakanien-Utopie auf die Suche nach Spuren der österreichisch-ungarischen Monarchie in der heutigen Hauptstadt des unabhängigen EUMitgliedslandes Kroatien. Als Zagreb, dank der kollaborationistisch ausgerichteten Pavelić-Regierung einerseits und dem Vormarsch der Partisanen andererseits, ziemlich unbeschädigt aus dem Zweiten Weltkrieg auftauchte und die frühen Jahre des Sozialismus erblickte, die wirklich die Bezeichnung kommunistisch, heute pauschal angewandt auf die ganze Periode bis 1990, verdienen, habe sich, so Jelčić, bald gezeigt, dass sämtliche neue Ikonographie, Umgangsformen und soziale Umwälzungen gegen die auch noch im alten Vorkriegsjugoslawien gegenwärtige kakanische Lebensweise und Ansichten keine Chance hatten: Zwar habe Kakanien, in Stein gehauen und eingeritzt, in Metall gegossen und in die Köpfe der alteingesessenen Einwohner eingeprägt, weitergelebt, und mehr als das: Die schrecklichen Opfer des Ersten Weltkrieges, die Hungerjahre und die Niederlage, bei der Kroaten bis ganz kurz vor dem Ende noch an der Seite der Verlierer ausharrten, verblassten trotz der mahnenden Erinnerung des Zweiten Weltkrieges, und vor allem in Zagreb, aber auch in anderen Städten wie Varaždin oder Osijek, sei das Idealbild einer Zeit und Gesellschaft erhalten geblieben, das nur zum Teil wirklich existiert hatte und in seinen wesentlichen Zügen der Literatur angehörte. An zahlreichen Beispielen führt Jelčić vor, wie diese Utopie in Zagreb durch Jahrzehnte praktiziert wurde und wie sie sozialistische Glaubenssätze und Umgangsformen von sich fernhielt, bevor im heutigen unabhängigen Kroatien mit dem neoliberalen Kapitalismus auch die Welle der Globalisierung, der amerikanischen Denkweise und des neuen Barbarentums gekommen sei. Trotz den immer noch erhaltenen schwachen Kakanienresten bei der nun ältesten Generation sei ganz klar: Kakanien in Kroatien stirbt genau hundert Jahre nach seinem Untergang. Diesem Fazit Jelčićs stellt Walter Fanta in seinem Beitrag Arnautovic spricht mit Musil über Sport, Kunst und Moral das Scheitern der Konstruktion nationaler Identität mit Hilfe des Fußballs anstelle von Literatur in zwei anderen Nachfolgestaaten der Habsburgermonarchie an die Seite: Im ‚deutschen‘ Staat Österreich sei es dem Regime 1933 genauso wie in der kommunistischen Volksrepublik Ungarn 1953 misslungen, den Sport für ein haltbares ‚Wir‘ zu instrumentalisieren. Dazu stellt Fanta unter anderem folgende Thesen zur Diskussion: 1. Der sportliche Wettkampf nehme eine Stellvertreter-Funktion ein; 2. in der Großen Erzählung für die Konstruktion von Nation sei der verbleibende Held des modernen nationalen Mythos, der seinen Körper noch öffentlich für das Vaterland einsetzt, der Sportler; 3. die neuen Leitmedien Zeitung, Radio und TV privilegierten die Sportreportage für den Transport der nationalen Mythen; 4. die Literatur übernehme die Funktion der Sportmythen-Dekonstruktion. Um eine vergleichbare, doch auf anderem Wege, nämlich über die Sprache, erfolgende Identitätsbildung bzw. die Bedingungen für deren Glücken oder Scheitern ging es im Rahmen der Tagung auch im Vortrag Tamara Scheers, der bedauerlicher Weise ebenfalls nicht schriftlich vorliegt: Unter dem Titel Die Babel-Identität: Die Sprachenvielfalt in der k.u.k. Armee als Merkmal der Gemeinsamkeit zeigte Scheer die entsprechende Problematik am Beispiel der größten Institution der Habsburgermonarchie auf, der k.u.k. Armee, die jährlich tausende Männer unabhängig von ihrer sozialen, religiösen, kulturellen, sprachlichen und ethnischen Herkunft in des Kaisers Rock zwängte. Es sei, so Scheer, das gemeinsam erlebte Sprachenwirrwarr, das eine gemeinsame Erfahrung und damit einen Bezugspunkt geschaffen habe, was indes keinesfalls jemals von den militärischen Autoritäten noch vom Kaiser so geplant gewesen sei. Propagiert wurden des Kaisers Rock, die Uniform, der Eid, etc. als identitätsstiftende Merkmale, die letztlich zu Loyalität gegenüber dem Staat, dem Monarchen und der Armee führen sollten, erst das Quellenstudium aus der spätesten Habsburgermonarchie biete ein ganz anderes Bild. Zwischen den Zeilen gelesen, scheine es, als ob die Sprachenvielfalt zum wichtigsten Identitätsmoment der Armee geworden sei, und dies letztlich auch für deren Mitglieder und Opponenten.
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