Yoko Ogawa - Insel der verlorenen Erinnerung

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Auf einer Insel, nicht weit vom Festland entfernt, prägen sonderbare Ereignisse das Leben. In regelmäßigen Abständen verschwinden Dinge, und zwar für immer. Zunächst sind es Hüte, dann alle Vögel, später die Fähre. Bald gibt es keine Haarbänder mehr und keine Rosen … Die Bewohner haben sich damit abgefunden, dass auch ihre Erinnerung immer weiter verblasst. Nur einige wenige können nichts vergessen. Deshalb werden sie von der Erinnerungspolizei verfolgt, die dafür Sorge trägt, dass alle verschwundenen Dinge auch verschwunden bleiben, nicht nur im alltäglichen Leben, sondern auch in den Köpfen der Menschen.
Als eine junge Schriftstellerin herausfindet, dass ihr Verleger Gefahr läuft, von der Erinnerungspolizei festgenommen zu werden, beschließt sie, ihm zu helfen – auch wenn sie damit ihr Leben riskiert. Sie richtet im Untergeschoss ihres Hauses ein Versteck für ihn ein. Doch die Razzien der Polizei werden ständig ausgeweitet, und immer häufiger verschwinden Dinge. Die beiden hoffen auf die Fertigstellung ihres neuen Romans als letzte Möglichkeit, die Vergangenheit zu bewahren.
Yoko Ogawas internationaler Bestseller ist eine faszinierende Parabel über den Verlust von Freiheit und die Bedeutung der eigenen Vergangenheit. Selten werden die drängenden Fragen unserer Zeit so poetisch verhandelt wie hier.

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Yoko Ogawa

Insel

der verlorenen

Erinnerung

Roman

Aus dem Japanischen

von Sabine Mangold

Die Originalausgabe erschien 1994 unter dem Titel

»Hisoyaka na Kesshô« bei Kodansha in Tokio.

© Yoko Ogawa 1994

© Verlagsbuchhandlung Liebeskind 2020

Alle Rechte vorbehalten

Yoko Ogawa wird durch das Japan Foreign-Rights Centre vertreten

Umschlagmotiv: Taxi / Getty Images

Umschlaggestaltung: Tyler Comrie, New York

eISBN 978-3-95438-123-4

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

1

Manchmal frage ich mich, was auf der Insel zuerst verschwand.

»Lange bevor du auf die Welt kamst, gab es so vieles hier: durchsichtige und angenehm duftende Dinge, flirrende, schimmernde, wundersame Dinge, von denen du keine Vorstellung hast.«

Als ich ein Kind war, erzählte meine Mutter mir diese Geschichten.

»Es ist wirklich ein Jammer, dass die Inselbewohner nicht imstande sind, all das im Gedächtnis zu bewahren. Aber so ist es hier nun mal, nach und nach geht alles verloren. Bald schon wirst du zum ersten Mal erleben, wie etwas für immer verschwindet.«

»Ist das nicht furchtbar?«, fragte ich ängstlich.

»Nein. Hab keine Angst! Es tut nicht weh und macht auch nicht traurig. Du wirst es kaum wahrnehmen. Eines Morgens wachst du auf, und dann ist es auch schon geschehen. Während du mit geschlossenen Augen lauschst, um die Morgenstimmung einzufangen, wirst du merken, etwas ist anders. Dann weißt du, dass etwas fehlt, dass etwas nicht mehr existiert.«

Meine Mutter redete nur darüber, wenn wir uns in ihrem Atelier aufhielten, das im Keller lag. Es war ein großer, staubiger Raum mit unebenem Boden. Die Nordseite lag in der Nähe des Flusses, man konnte das Rauschen des Wassers hören. Ich saß auf meinem kleinen Schemel, und sie erzählte mit leiser Stimme, während sie einen Stein glatt feilte oder ihren Meißel schliff. Meine Mutter war Bildhauerin.

»Wenn etwas verschwindet, herrscht auf der Insel ein ziemlicher Tumult. Alle Einwohner versammeln sich auf den Straßen und tauschen Erinnerungen aus über das, was verloren gegangen ist. Wehmütig trauert man den Dingen hinterher und spendet einander Trost. Wenn es sich um konkrete Gegenstände handelt, die abhandengekommen sind, lesen wir deren Überreste auf, um sie zu verbrennen, zu vergraben oder in den Fluss zu werfen. Nach ein paar Tagen hat sich die Aufregung schon wieder gelegt. Man geht zur Tagesordnung über, als wäre nichts geschehen. Hinterher weiß man nicht einmal mehr, was eigentlich verschwunden ist.«

Dann unterbrach sie ihre Arbeit und führte mich hinter die Treppe zu einer alten Kommode mit zierlichen Schubladen.

»Komm, such dir eine aus und schau hinein.«

Ich war jedes Mal unschlüssig und betrachtete eine Weile die rostigen Griffe.

Ich zögerte, weil ich wusste, dass sich in den Kästchen wundersame Dinge befanden. Es war das geheime Versteck meiner Mutter. Dort bewahrte sie Gegenstände auf, die von der Insel verschwunden waren.

Wenn ich dann endlich meine Wahl getroffen hatte und eine Schublade aufzog, legte sie lächelnd den Inhalt auf meine Handfläche, die ich ihr entgegenhielt.

»Dieses Stück Stoff heißt ›Band‹. Es verschwand, als ich selbst noch ein Kind war. Man konnte damit seine Haare zusammenbinden oder es zur Zierde an Kleidungsstücke nähen.«

»Das hier ist ein ›Glöckchen‹. Du kannst es hin- und herschwingen. Hör nur, wie schön sein Klang ist.«

»Oh, heute hast du dir eine besondere Schublade ausgesucht. Das ist ein ›Smaragd‹. Es ist das Kostbarste in meiner Sammlung, ein Andenken an meine Großmutter. Einst war es der wertvollste Stein auf der ganzen Insel. Aber leider haben alle vergessen, wie schön er ist.«

»Das hier ist zwar klein, war aber von großer Bedeutung. Wenn man jemandem etwas mitteilen wollte, schrieb man es auf ein Blatt Papier und klebte dann diese ›Briefmarke‹ auf den Umschlag. Damit konnte das Schriftstück überallhin geschickt werden. Aber das ist schon lange vorbei.«

Band, Glocke, Smaragd, Briefmarke … Die Worte aus dem Mund meiner Mutter ließen mich wohlig erschaudern, wie es sonst nur Mädchennamen aus fernen Ländern oder exotische Pflanzenarten vermochten. Wenn ich ihren Geschichten lauschte, stellte ich mir vor, wie all die Dinge auf unserer Insel einst ihren Platz hatten.

Das war gar nicht so einfach. Denn die Gegenstände blieben reglos auf meiner Handfläche liegen, ohne ein Lebenszeichen. Sie verharrten wie kleine Tiere, die Winterschlaf halten. Ich fühlte mich dann unsicher, so als müsste ich aus Knetmasse Wolken formen. Während ich vor den geheimnisvollen Schubladen stand, fühlte ich, dass ich meine volle Aufmerksamkeit auf jedes Wort richten musste, das meine Mutter aussprach.

Meine Lieblingsgeschichte war die über das »Parfum«. Es handelte sich dabei um eine klare Flüssigkeit in einem Glasflakon. Als meine Mutter mir zum ersten Mal einen solchen Flakon überreichte, hielt ich den Inhalt für Zuckerwasser und hätte fast daraus getrunken.

»Nein, das ist doch nicht zum Trinken!« Meine Mutter hielt mich lachend zurück.

»Davon darfst du nur ein Tröpfchen hinters Ohr tun.«

Sie tupfte behutsam eines auf die entsprechende Stelle.

»Aber wozu soll das gut sein?«, fragte ich erstaunt.

»Parfum ist zwar unsichtbar, aber trotzdem lässt es sich in solch einen Flakon sperren.«

Ich musterte neugierig den Inhalt.

»Wenn man Parfum aufträgt, dann duftet es. Damit kannst du jemanden verzaubern. Als ich jung war, haben alle Mädchen vor einem Rendezvous Parfum aufgetragen. Um einem Jungen, für den man schwärmte, zu gefallen, war die Wahl des Dufts genauso wichtig wie die passende Kleidung. Das hier ist das Parfum, das ich getragen habe, wenn ich mit deinem Vater verabredet war. Wir trafen uns meistens im Rosengarten, der am Fuße des Hügels im Süden der Stadt liegt, und ich hatte Mühe, einen Duft zu finden, der es mit den Blumen aufnehmen konnte. Wenn der Wind durch mein Haar strich, musterte ich ihn verstohlen von der Seite, weil ich wissen wollte, ob er mein Parfum wahrnahm.«

Meine Mutter war immer sehr aufgeregt, wenn sie davon erzählte.

»Damals kannte jeder solche duftenden Essenzen. Und alle fanden Gefallen daran. Aber jetzt sind sie fort. Nirgendwo wird mehr Parfum verkauft, und niemand verlangt mehr danach. Es verschwand im Herbst desselben Jahres, als dein Vater und ich heirateten. Alle versammelten sich daraufhin am Fluss, jeder brachte seinen Lieblingsduft mit. Die Flakons wurden geöffnet und der Inhalt ins Wasser geschüttet. Am Ende rochen einige mit wehmütigem Bedauern an ihren leeren Flakons, aber niemand konnte sich mehr an den Duft erinnern. Damit war Parfum bedeutungslos geworden. Es hatte sich im Wasser aufgelöst und spielte keine Rolle mehr. Noch einige Tage später raubte einem der Geruch am Fluss fast den Atem, und viele Fische starben. Aber das fiel niemandem mehr auf. Das Parfum war bereits aus den Herzen der Menschen verschwunden.«

Als sie zum Ende kam, blickte meine Mutter traurig vor sich hin. Dann nahm sie mich auf ihren Schoß und ließ mich an ihrem Hals riechen.

»Und?«, fragte sie.

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