Mit der Buchhandlung ist es das Gleiche. Im Einkaufsviertel gibt es keinen Laden, der so gespenstisch leer ist. Mit fahlem Teint hockt der Buchhändler mürrisch hinter Stapeln von unverkauften Büchern mit vergilbten Schutzumschlägen.
Hier leben nur wenige Menschen, die Romane lesen wollen. Meistens arbeite ich von vierzehn Uhr bis Mitternacht an meinem Manuskript. In dieser Zeit schaffe ich etwa fünf Seiten. Ich genieße es, die Kästchen auf dem Papier sorgfältig mit Zeichen auszufüllen. Es gibt schließlich keinen Grund zur Eile. Ich lasse mir sehr viel Zeit, das passende Schriftzeichen für das jeweilige Kästchen zu finden.
Mein Arbeitsplatz ist das ehemalige Büro meines Vaters. Anders als zu seiner Zeit ist heute alles viel ordentlicher. Denn für meine Romane brauche ich weder Notizen noch irgendwelche Nachschlagewerke. Auf dem Schreibtisch liegen nur ein Stapel Papier, ein Bleistift, eine Klinge zum Anspitzen sowie ein Radiergummi. Aber sosehr ich mich auch anstrenge, es gelingt mir nicht, die Leere zu füllen, die die Erinnerungspolizei hinterlassen hat.
Gegen Abend mache ich einen einstündigen Spaziergang. Dabei laufe ich an der Küste entlang zum Fähranleger, während ich auf dem Rückweg den Pfad über den Hügel nehme, der an der Vogelwarte vorbeiführt.
Die Fähre, die bereits seit langer Zeit vertäut im Hafen liegt, ist völlig verrostet. Niemand besteigt sie mehr, um irgendwo hinzufahren. Auch sie gehört zu den Dingen, die von der Insel verschwunden sind.
Eigentlich sollte der Schiffsname auf dem Bug zu erkennen sein, aber durch die Salzluft ist die Farbe abgeblättert und der Schriftzug nicht mehr lesbar. Die Bullaugen sind blind, der Rumpf, die Ankerkette und die Schiffsschraube von Muscheln und Algen überzogen. Das Schiff sieht aus wie der Kadaver eines riesigen Seeungeheuers, das langsam versteinert.
Der Mann meiner Kinderfrau hat früher als Mechaniker hier gearbeitet. Als der Fährbetrieb eingestellt wurde, war er eine Zeit lang als Wachmann in einem Lagerhaus am Hafen beschäftigt, heute lebt er an Bord des Schiffs, allein und zurückgezogen. Auf meinem täglichen Spaziergang schaue ich regelmäßig vorbei, um mit ihm zu plaudern.
»Wie geht es Ihnen?«, fragt der alte Mann und bietet mir einen Stuhl an. »Kommen Sie mit dem Schreiben voran?«
Auf der alten Fähre gibt es viele verschiedene Sitzgelegenheiten, sodass wir uns je nach Witterung und Laune auf einer Bank an Deck niederlassen oder es uns im Salon auf einem Sofa gemütlich machen.
»Nun ja, es braucht seine Zeit«, antworte ich dann.
»Passen Sie gut auf sich auf!«, sagt er jedes Mal. »Nicht jeder kann den ganzen Tag am Schreibtisch sitzen und sich komplizierte Sachen ausdenken. Wenn Ihre Eltern noch am Leben wären, wären sie bestimmt sehr stolz.«
Er nickt, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen.
»Einen Roman zu schreiben ist keine großartige Angelegenheit. Ich denke, es ist viel schwieriger, einen Schiffsmotor zu zerlegen, einzelne Teile auszutauschen und ihn dann wieder zusammenzubauen.«
»Ach, woher! Da die Schiffe verschwunden sind, gibt es ja sowieso nichts mehr für mich zu tun.«
Für einen Moment herrscht Schweigen.
»Übrigens, heute habe ich ein paar erstklassige Pfirsiche bekommen. Ich werde sie für uns aufschneiden.«
Der Alte verschwindet in der Kombüse neben dem Maschinenraum. Die Pfirsichscheiben serviert er auf einem mit Eis gekühlten und mit Minzblättern dekorierten Teller. Dazu hat er eine Kanne schwarzen Tee gebrüht. Er ist nicht nur sehr geschickt im Umgang mit Maschinen, sondern auch mit Speisen und Pflanzen.
Er ist immer der Erste, dem ich ein gedrucktes Exemplar meiner Bücher überreiche. »Ah, sieh an, das ist also Ihr neuer Roman«, sagt er dann, wobei er das Wort »Roman« voller Ehrfurcht ausspricht. Sobald er das Buch in Händen hält, verbeugt er sich. Er behandelt es, als wäre es eine Reliquie.
»Vielen Dank, haben Sie vielen Dank.«
Seine Stimme klingt belegt, als wäre er den Tränen nah, was wiederum mich verlegen macht. Leider hat er nie eine Seite meiner Romane gelesen.
Einmal habe ich ihn gefragt, wie ihm meine Bücher gefallen. Er gab mir eine verblüffende Antwort.
»Ich kann es nicht sagen. Das wäre sehr unvernünftig. Wenn ich ein Buch lesen würde, wäre ja die Geschichte aus und vorbei. Was für eine Verschwendung! Ich verwahre das Buch lieber und halte es in Ehren.«
Dann legte er es auf den Altar, der sich in der Kapitänskajüte befand und der den Göttern des Meeres gewidmet war, und faltete die Hände zum Gebet.
Beim Essen unterhalten wir uns über alles Mögliche, oft schwelgen wir einfach nur in Erinnerungen. Wir sprechen über meinen Vater, meine Mutter, über seine Frau, die sich um mich gekümmert hatte, über die Vogelwarte, über die Skulpturen meiner Mutter, über die alten Tage, als man noch mit der Fähre zu anderen Orten fahren konnte … Aber unsere Erinnerungen daran verblassen von Tag zu Tag, denn wenn Dinge verschwinden, gehen auch unsere Gedanken daran verloren. Wir teilen uns die Pfirsiche und lassen sie uns auf der Zunge zergehen, so wie die alten Geschichten, die wir uns immer wieder erzählen.
Wenn die Abendsonne im Meer versinkt, gehe ich von Bord. Obwohl die Gangway nicht sehr steil ist, geleitet mich der alte Mann stets an Land. Er behandelt mich immer noch wie das kleine Mädchen, das ich einst war.
»Passen Sie gut auf sich auf und kommen Sie heil nach Hause!«
»Ja, bis morgen dann.«
Er schaut mir so lange nach, bis ich außer Sichtweite bin.
Nach meinem Besuch im Hafen klettere ich für gewöhnlich den Hügel hinauf zur Vogelwarte. Aber dort halte ich es nie lange aus. Beim Anblick des Meeres hole ich ein paar Mal tief Luft, dann steige ich wieder hinab. Auch hier haben die Erinnerungspolizisten ganze Arbeit geleistet und eine Ruine hinterlassen. Nichts erinnert mehr an die Vogelwarte, die wissenschaftlichen Mitarbeiter haben sich in alle Winde zerstreut.
Wenn ich vor dem Fenster stehe, aus dem ich zusammen mit meinem Vater durch das Fernrohr blickte, kommen auch heute noch Vögel angeflattert, aber sie führen mir vor Augen, dass sie für mich keine Bedeutung mehr haben.
Wenn ich unten angekommen bin und die Stadt durchquere, ist die Sonne bereits untergegangen. Abends wird es ruhig auf der Insel. Nach Dienstschluss verlassen die Menschen ihren Arbeitsplatz, die Kinder laufen nach Hause, Lieferwagen, die Waren zum Markt gebracht haben, rumpeln leer und mit knatterndem Motor vorbei. Und dann kehrt Stille ein. Als würde sich die ganze Insel darauf vorbereiten, dass morgen wieder etwas verschwindet.
So bricht die Nacht über uns herein.
Als ich am Mittwochnachmittag mein Manuskript in den Verlag brachte, begegnete ich unterwegs einem Spähtrupp. Es war das dritte Mal in diesem Monat.
Sie wurden zusehends rücksichtsloser und gewalttätiger. Seit fünfzehn Jahren schon trieben sie ihr Unwesen, denn so lange war es her, dass meine Mutter verschleppt wurde.
Damals gab es außer ihr noch andere unbeugsame Menschen, die ihre Erinnerungen an Verlorenes nicht aufgeben wollten. Einer nach dem anderen wurde von der Erinnerungspolizei aufgespürt und weggeschafft. Niemand wusste, wohin man sie brachte.
Ich war gerade aus dem Bus gestiegen und wartete auf das Signal zum Überqueren der Straße, als drei grüne Armeelastwagen sich der Kreuzung näherten. Die anderen Fahrzeuge verlangsamten ihr Tempo und fuhren an die Seite, um sie vorbeizulassen. Die Lastwagen hielten vor einem Gebäude, in dem sich eine Zahnarztpraxis befand, eine Versicherungsgesellschaft sowie ein Tanzstudio. Etwa zehn bewaffnete Männer sprangen heraus und stürmten ins Haus. Den Leuten auf der Straße stockte der Atem. Einige versteckten sich ängstlich in Seitenstraßen. Alle schienen inständig zu hoffen, dass das, was sich vor ihren Augen abspielte, möglichst bald vorbei sei, ohne dass sie selbst in die Sache hineingezogen wurden. Eine gespenstische Stille umgab die Lastwagen, die ganze Umgebung war wie erstarrt.
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