Unterdes war Quangel in das Bürohaus eingetreten. Er hatte sich nur darum so rasch dazu entschlossen, weil die Frau an seiner Seite war. Sie machte ihn unruhig, jeden Augenblick konnte sie wieder »davon« zu reden anfangen. In ihrer Gegenwart mochte er nicht lange suchen. Sie würde sicher wieder davon zu reden anfangen, dieses Haus vorschlagen, jenes ablehnen. Nein, nichts mehr davon! Da ging er lieber in das erste Beste hinein, wenn es auch das erste Schlechteste war.
Es war das erste Schlechteste. Es war ein helles, modernes Bürohaus, mit vielen Firmen wohl, aber auch mit einem Portier in grauer Uniform. Quangel geht, ihn gleichgültig ansehend, an ihm vorüber. Er ist darauf gefasst, nach dem Wohin gefragt zu werden, er hat sich gemerkt, dass Rechtsanwalt Toll im vierten Stock sein Büro hat. Aber der Portier fragt ihn nichts, er redet mit einem Herrn. Er streift den Vorübergehenden nur mit einem flüchtigen, gleichgültigen Blick. Quangel wendet sich nach links, schickt sich an, die Treppe hochzusteigen, da hört er einen Fahrstuhl surren. Siehe da, damit hat er auch nicht gerechnet, dass es in einem solchen modernen Haus Fahrstühle gibt, sodass die Treppen kaum benutzt werden.
Aber Quangel steigt weiter die Treppe hoch. Der Junge im Lift wird denken: Das ist ein alter Mann, er misstraut einem Fahrstuhl. Oder er wird denken, er will nur in den ersten Stock. Oder er wird überhaupt nichts denken. Jedenfalls sind diese Treppen kaum benutzt. Er ist schon auf der zweiten, und bisher ist ihm nur ein Bürojunge begegnet, der eilig, ein Paket Briefe in der Hand, die Treppen hinabstürzte. Er sah Quangel gar nicht an. Der könnte seine Karte hier überall ablegen, aber er vergisst nicht einen Augenblick, dass dieser Fahrstuhl da ist, durch dessen blinkende Scheiben er jederzeit beobachtet werden kann. Er muss noch höher, und der Fahrstuhl muss grade in die Tiefe versunken sein, dann wird er es tun.
Er bleibt an einem der hohen Fenster zwischen zwei Stockwerken stehen und starrt auf die Straße hinunter. Dabei zieht er, gut gegen Sicht gedeckt, den einen Handschuh aus der Tasche und streift ihn über seine Rechte. Er steckt diese Rechte wieder in die Tasche, vorsichtig gleitet sie an der dort bereitliegenden Karte vorbei, vorsichtig, um sie nicht zu zerknittern. Er fasst sie mit zwei Fingern …
Während Otto Quangel all das tut, hat er längst gesehen, dass Anna nicht auf ihrem Platz am Schaufenster, sondern dass sie am Rande des Fahrdamms steht und höchst auffallend mit sehr blassem Gesicht nach dem Bürohaus hinübersieht. So hoch, wie er steht, erhebt sie den Blick nicht, sie mustert wohl die Türen im Erdgeschoss. Er schüttelt unmutig den Kopf, fest entschlossen, die Frau nie wieder auf einen solchen Weg mitzunehmen. Natürlich hat sie Angst um ihn. Aber warum hat sie Angst um ihn? Sie sollte um sich selbst Angst haben, so falsch wie sie sich benimmt. Sie erst bringt sie beide in Gefahr!
Er steigt weiter treppauf. Als er am nächsten Fenster vorbeikommt, schaut er noch einmal auf die Straße, aber jetzt sieht Anna wieder in das Schaufenster hinein. Gut, sehr gut, sie hat ihre Angst untergekriegt. Sie ist eine mutige Frau. Er wird gar nicht mit ihr darüber sprechen. Und plötzlich nimmt Quangel die Karte, legt sie vorsichtig auf das Fensterbrett, reißt, schon im Gehen, den Handschuh von der Hand und steckt ihn in die Tasche.
Die ersten Stufen hinabsteigend, sieht er noch einmal zurück. Da liegt sie im hellen Tageslicht, von hier aus kann er noch sehen, eine wie große, deutliche Schrift seine erste Karte bedeckt! Jeder wird sie lesen können! Und verstehen auch! Quangel lächelt grimmig.
Zugleich hört er aber auch, dass eine Tür im Stockwerk über ihm geht. Der Fahrstuhl ist vor einer Minute in die Tiefe gesunken. Wenn es dem da oben, der grade ein Büro verlassen hat, zu langweilig ist, auf das Wiederheraufkommen des Fahrstuhls zu warten, wenn er die Treppe hinuntersteigt, die Karte findet: Quangel ist nur eine Treppe tiefer. Wenn der Mann läuft, kann er Quangel noch erwischen, vielleicht erst ganz unten, aber kriegen kann er ihn, denn Quangel darf nicht laufen. Ein alter Mann, der wie ein Schuljunge die Treppe hinunterläuft – nein, das fällt auf. Und er darf nicht auffallen, niemand darf sich erinnern, einen Mann von dem und dem Aussehen überhaupt in diesem Hause gesehen zu haben.
Er geht aber immerhin ziemlich rasch diese Steinstufen hinunter, und zwischen dem Geräusch, das seine Schritte machen, lauscht er nach oben, ob der Mann wohl wirklich die Treppe benutzt hat. Dann muss er eigentlich die Karte gesehen haben, die ist gar nicht zu übersehen. Aber Quangel ist seiner Sache nicht sicher. Einmal glaubt er, Schritte gehört zu haben. Aber nun hört er schon lange nichts mehr. Und jetzt ist er zu tief unten, um noch irgendetwas zu hören. Der Fahrstuhl fährt lichterglänzend an ihm vorbei in die Höhe.
Quangel tritt in den Ausgang. Grade kommt ein großer Trupp Menschen vom Hofe her, Arbeiter aus irgendeiner Fabrik, Quangel schiebt sich unter sie. Diesmal, ist er ganz sicher, hat ihn der Portier überhaupt nicht angesehen.
Er geht über den Fahrdamm und stellt sich neben Anna.
»Erledigt!«, sagt er.
Und als er das Aufleuchten ihres Auges, das Nachzittern ihrer Lippen sieht, setzt er hinzu: »Niemand hat mich gesehen!« Und schließlich: »Komm, lass uns gehen. Es ist grade noch Zeit, dass ich zu Fuß in die Fabrik komme.«
Sie gehen. Aber beide werfen im Gehen noch einen Blick auf dieses Bürohaus zurück, in dem nun die erste Karte Quangels ihren Weg in die Welt antritt. Sie nicken dem Haus gewissermaßen Abschied nehmend zu. Es ist ein gutes Haus, und so viele Häuser sie auch in den nächsten Monaten und Jahren in der gleichen Absicht aufsuchen werden – dieses Haus wird von ihnen nicht vergessen werden.
Anna Quangel möchte gerne einmal rasch die Hand des Mannes streicheln, aber sie wagt es nicht. So streift sie nur wie zufällig dagegen und sagt erschrocken: »Verzeihung, Otto!«
Er sieht sie verwundert von der Seite an, aber er schweigt.
Sie gehen weiter.
ZWEITER TEIL – Die Gestapo
Der Schauspieler Max Harteisen hatte, wie sein Freund und Anwalt Toll sich auszudrücken beliebte, aus vornazistischen Zeiten noch reichlich viel Butter auf dem Kopf. Er hatte in Filmen mitgespielt, die von jüdischen Regisseuren geleitet waren, er hatte in pazifistischen Filmen mitgespielt, und eine seiner Hauptrollen auf dem Theater war jener verdammte Schwächling, der Prinz von Homburg, gewesen, den jeder wahre Nationalsozialist nur anspucken kann. Max Harteisen hatte also allen Anlass, sehr vorsichtig zu sein; eine Zeit lang war es ja sehr zweifelhaft gewesen, ob er unter den braunen Herren überhaupt noch spielen durfte.
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