Und sie: »Vielleicht werden sie dem Führer selbst solche Karten vorlegen – er selbst wird sie lesen, wir klagen ihn an! Er wird toben! Er soll doch immer gleich toben, wenn was nicht nach seinem Willen geht. Er wird befehlen, uns zu finden, und sie werden uns nicht finden! Er wird weiter unsere Anklagen lesen müssen!«
Sie schweigen beide, beide geblendet von diesem Ausblick. Was waren sie eben noch? Unbekannte Existenzen; im großen, dunklen Gewimmel hatten sie mitgewimmelt. Und nun sind sie beide ganz allein, getrennt, erhoben vor den anderen, mit keinem von ihnen zu verwechseln. Es ist Eiseskälte um sie, so allein sind sie.
Und Quangel sieht sich in der Werkstatt stehen, wie immer im gleichen Getriebe, treibend und getrieben, den Kopf achtsam, ruckweise von Maschine zu Maschine gedreht. Für die wird er immer der olle doofe Quangel sein, nur von seiner Arbeit und seinem schmutzigen Geiz besessen. In seinem Kopf aber hat er Gedanken, wie sie keiner von ihnen hat. Jeder von ihnen würde vor Angst umkommen, wenn er solche Gedanken hätte. Er aber, der dusslige olle Quangel, er hat sie. Er steht da und täuscht sie alle.
Anna Quangel aber denkt jetzt an den Weg, den sie morgen beide gehen werden, die erste Karte fortzubringen. Sie ist etwas unzufrieden mit sich, dass sie nicht darauf bestanden hat, mit Quangel ins Haus hineinzugehen. Sie überlegt, ob sie ihn nicht noch einmal darum bitten soll. Vielleicht. Im Allgemeinen ist Otto Quangel durch Bitten nicht umzustimmen. Aber vielleicht heute Abend, da er so ungewöhnlich heiterer Laune zu sein scheint? Vielleicht gleich jetzt?
Aber es dauert zu lange, bis sie sich entschlossen hat. Da merkt sie: Quangel ist schon eingeschlafen. So schickt auch sie sich an zu schlafen, sie wird sehen, ob es morgen passt. Wenn es passt, wird sie bestimmt fragen.
Und dann schläft auch sie ein.
19. Die erste Karte wird abgelegt
Sie wagt es erst auf der Straße, ihm davon zu sprechen, so wortkarg war Otto an diesem Vormittag. »Wo willst du die Karte hinbringen, Otto?«
Er antwortet mürrisch: »Sprich jetzt nicht davon. Nicht jetzt auf der Straße.«
Und dann setzt er doch noch widerwillig hinzu: »Ich habe mir ein Haus in der Greifswalder Straße ausgesucht.«
»Nein«, sagt sie entschieden. »Nein, tu das nicht, Otto. Das ist falsch, was du da tun willst!«
»Komm!«, sagt er böse, denn sie ist stehen geblieben. »Ich sage dir doch, nicht hier auf der Straße!«
Er geht weiter, sie folgt ihm und besteht auf ihrem Recht mitzusprechen. »Nicht so in der Nähe unserer Wohnung«, betont sie. »Wenn diese Sache denen in die Hände fällt, haben sie gleich einen Fingerzeig über die Gegend. Lass uns bis zum Alex runtergehen …«
Er denkt nach, er überlegt. Vielleicht, nein, sicher hat sie recht. Man muss mit allem rechnen. Und doch, dieses plötzliche Umändern seiner Pläne passt ihm nicht recht. Wenn sie jetzt bis zum Alex laufen, wird die Zeit sehr knapp, und er muss doch zum Arbeitsbeginn zurechtkommen. Auch weiß er kein passendes Haus am Alex. Sicher gibt es dort viele, aber man muss das richtige erst suchen, und das tut er lieber allein als mit der Frau, die ihn dabei stört.
Dann, ganz plötzlich, entschließt er sich. »Gut«, sagt er. »Du hast recht, Anna. Gehen wir zum Alex.«
Sie sieht ihn dankbar von der Seite an. Sie ist glücklich, dass er auch einmal einen Ratschlag von ihr angenommen hat. Und weil er sie eben grade so glücklich gemacht hat, will sie ihn nicht noch um das andere bitten, dass sie mit ins Haus gehen darf. Nun gut, soll er allein gehen. Sie wird während des Wartens auf seine Rückkehr ein bisschen ängstlich sein – aber warum eigentlich? Sie zweifelt nicht einen Augenblick daran, dass er zurückkommen wird. Er ist so ruhig und so kalt, er lässt sich nicht überrumpeln. Noch in deren Händen würde er sich nicht verraten, er würde sich freikämpfen.
Während sie so überlegend neben dem schweigsamen Manne einhergeht, sind sie von der Greifswalder in die Neue Königstraße hineingekommen. Sie ist so beschäftigt gewesen mit ihren Gedanken, dass sie nicht darauf geachtet hat, wie wachsam Otto Quangels Augen an den Häusern entlangstrichen. Nun bleibt er plötzlich stehen – sie haben noch ein gutes Stück bis zum Alexanderplatz – und sagt: »Da, sieh dir da das Schaufenster an, ich bin gleich zurück.«
Schon geht er über die Fahrbahn auf ein großes, helles Bürohaus zu.
Ihr Herz fängt stark an zu klopfen. Sie möchte ihm zurufen: Nein, nicht, wir haben Alex ausgemacht! Lass uns so lange noch zusammenbleiben! Und: Sage mir wenigstens Lebewohl! Aber die Tür dort schlug schon hinter ihm zu.
Mit einem schweren Seufzer wendet sie sich dem Schaufenster zu. Aber sie sieht nichts von dem Ausgestellten. Sie lehnt die Stirn gegen die kalte Scheibe, vor ihren Augen flirrt und flimmert es. Ihr Herz klopft so sehr, dass sie kaum atmen kann, alles Blut scheint ihr in den Kopf zu treten.
Also habe ich doch Angst, denkt sie. Um Gottes willen, er darf das nie merken, dass ich Angst habe! Sonst nimmt er mich nie wieder mit. Aber ich habe auch keine richtige Angst, überlegt sie weiter. Ich habe keine Angst um mich. Ich habe um ihn Angst. Wenn er nun nicht wiederkommt!
Sie kann es nicht lassen, sie muss sich nach dem Bürohaus umdrehen. Die Tür wird aufgestoßen, Menschen kommen, Menschen gehen; warum kommt Quangel nicht? Er muss fünf, nein, zehn Minuten fort sein. Warum rennt der Mann, der eben aus dem Haus kam, so? Soll er vielleicht die Polizei rufen? Haben sie Quangel gleich beim ersten Male gefasst?
Oh, ich halte das nicht aus! Was hat er sich vorgenommen?! Und ich dachte, es wäre etwas Kleines! Jede Woche einmal, und wenn er erst zwei Karten schreibt, jede Woche zweimal in Lebensgefahr! Und er wird mich nicht immer mitnehmen wollen! Ich habe das heute früh schon gemerkt, eigentlich war ihm mein Mitkommen nicht recht. Er wird allein gehen, allein wird er die Karten fortbringen, und von da wird er zur Fabrik gehen (oder er wird auch nie wieder zur Fabrik gehen!), und ich werde zu Hause sitzen, sitzen und mit Angst auf ihn warten. Ich fühle, diese Angst wird nie aufhören, daran werde ich mich nie gewöhnen. Da kommt Otto! Endlich! Nein, er ist es nicht. Er ist es wieder nicht! Jetzt gehe ich ihm nach, er kann noch so böse werden! Es ist bestimmt etwas passiert, er muss schon eine Viertelstunde fort sein, so lange kann das nie und nimmer dauern! Jetzt suche ich ihn!
Sie macht drei Schritte auf das Haus zu – und kehrt wieder um. Stellt sich vor das Schaufenster, starrt hinein.
Nein, ich werde ihm nicht nachgehen, ich werde ihn nicht suchen. Nicht schon gleich beim ersten Male kann ich so versagen. Ich bilde mir ja nur ein, dass was geschehen ist; sie gehen in dem Haus ein und aus wie immer. Sicher ist Otto auch noch keine Viertelstunde fort. Ich will jetzt sehen, was in diesem Schaufenster ist. Büstenhalter, Gürtel …
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