So stand sie mit einem ganz leisen Seufzer auf und trug die Tassen und die Teller in die Küche. Als sie zurückkam, um den Brotkorb und die Kanne zu holen, kniete er vor einem Schubfach der Kommode und kramte darin herum. Anna Quangel konnte sich nicht erinnern, was eigentlich in diesem Schubfach lag. Es konnte nur alter, längst vergessener Schraps sein. »Suchst du was Bestimmtes, Otto?«, fragte sie mit einem alten Berliner Witz.
Aber er gab nur einen Knurrlaut von sich, so zog sie sich tief in die Küche zurück, um abzuwaschen und das Essen vorzubereiten. Er wollte nicht. Er wollte also wieder nicht! Und mehr denn je war sie der Überzeugung, dass sich etwas in ihm vorbereitete, von dem sie immer noch nichts wusste und das sie doch wissen musste!
Später, als sie wieder in die Stube hereinkam, um sich beim Kartoffelschälen in seine Nähe zu setzen, fand sie ihn an dem seiner Decke beraubten Tisch, die Platte lag voller Schnitzmesser, und kleine Späne bedeckten bereits den Boden um ihn. »Was tust du denn, Otto?«, fragte sie maßlos erstaunt.
»Mal sehen, ob ich noch schnitzen kann«, gab er zurück.
Sie war maßlos enttäuscht und auch ein wenig gereizt. Wenn Otto auch kein großer Kenner der Menschenseele war, eine kleine Ahnung musste er doch davon haben, wie es in ihr aussah, mit welcher Spannung sie jede Mitteilung von ihm erwartete. Und nun hatte er seine Schnitzmesser aus ihren ersten Ehejahren hervorgesucht und schnippelte am Holz herum ganz wie damals, als er sie durch sein ewiges Schweigen zur Verzweiflung brachte. Damals war sie seine Wortkargheit noch nicht so gewohnt gewesen wie heute, aber heute, grade heute, da sie sie gewohnt war, schien sie ihr völlig unerträglich. Schnitzen, du lieber Gott, wenn das alles war, was diesem Mann nach solchen Erlebnissen einfiel! Wenn er sich mit stundenlanger schweigender Schnitzkunst seine so eifersüchtig gehütete Stille wiederholen wollte – nein, das würde eine schwere Enttäuschung für sie bedeuten. Er hatte sie schon oft schwer enttäuscht, aber diesmal würde sie das nicht so stillschweigend ansehen können.
Während sie dieses alles sehr unruhig und verzweifelt überdachte, sah sie doch mit halber Neugier auf das längliche, dicke Holzstück, das er nachdenklich zwischen seinen großen Händen drehte, von dem er nachdenklich mit seinem Messer dann und wann einen stärkeren Span abnahm. Nein, eine Wäschetruhe wurde das diesmal nicht, so viel stand fest.
»Was wird denn das, Otto?«, fragte sie halb unwillig. Ihr war der seltsame Gedanke gekommen, dass er da irgendein Werkstück schnitzte, vielleicht einen Teil eines Bombenzünders. Aber so was auch nur zu denken, war Unsinn – was hatte Otto mit Bomben zu tun?! Außerdem konnte man wahrscheinlich Holz bei Bomben gar nicht verwenden. »Was wird denn das, Otto?«, hatte sie also halb widerwillig gefragt.
Erst schien er wieder nur mit einem Knurren antworten zu wollen, aber vielleicht fiel ihm ein, dass er diesen Morgen seiner Anna schon ein bisschen viel zugemutet hatte, vielleicht war er aber auch einfach bereit, Auskunft zu geben. »Kopf«, sagte er. »Will mal sehen, ob ich noch einen Kopf schnitzen kann. Habe früher viel Pfeifenköpfe geschnitzt.«
Und er drehte und schnippelte weiter.
Pfeifenköpfe! Anna stieß einen empörten Laut aus. Sie sagte jetzt doch sehr ärgerlich: »Pfeifenköpfe! Aber Otto! Besinn dich! Die Welt stürzt ein, und du denkst an Pfeifenköpfe! Wenn ich bloß so was höre!«
Er schien weder auf ihren Ärger noch auf ihre Worte groß zu achten. Er sagte: »Das wird natürlich kein Pfeifenkopf. Ich will mal sehen, ob ich unser Ottochen ein bisschen zurechtschnitzen kann, wie er ausgesehen hat!«
Sofort schlug ihre Stimmung um. Also an Ottochen dachte er, und wenn er an Ottochen dachte und seinen Kopf schnitzen wollte, so dachte er auch an sie und wollte ihr eine Freude damit machen. Sie stand von ihrem Stuhle auf und sagte, hastig die Kartoffelschüssel absetzend: »Warte, Otto, ich hole dir die Bilder, damit du auch weißt, wie Ottochen wirklich ausgesehen hat.«
Er schüttelte ablehnend den Kopf. »Ich will keine Bilder sehen«, sagte er. »Ich will den Otto schnitzen, wie ich ihn hier in mir drin habe.« Er tippte gegen seine hohe Stirn. Und nach einer Pause setzte er noch hinzu: »Wenn ich’s kann!«
Nun war sie wieder gerührt. Ottochen war also auch in ihm, er hatte ein festes Bild von dem Jungen. Jetzt war sie neugierig, wie dieser Kopf aussehen würde, wenn er erst fertig war. »Sicher bringst du es fertig, Otto!«, sagte sie.
»Na!«, sagte er nur, aber es klang nicht einmal so zweifelnd wie zustimmend.
Damit war die Unterhaltung zwischen den beiden erst einmal beendet. Anna musste in die Küche zurück zu ihrem Mittagessen, und sie ließ ihn da am Tisch, wie er langsam diesen Klotz Lindenholz zwischen seinen Fingern drehte und mit einer stillen, behutsamen Geduld Spänchen auf Spänchen von ihm abnahm.
Sie war dann aber doch sehr überrascht, als sie kurz vor dem Mittagessen zurückkam, um den Tisch zu decken, diesen Tisch schon aufgeräumt und mit seiner Decke geschmückt zu finden. Quangel stand am Fenster und sah in die Jablonskistraße hinunter, wo die spielenden Kinder lärmten.
»Na, Otto?«, fragte sie. »Schon fertig mit der Schnitzerei?«
»Für heute ist Feierabend«, antwortete er, und im selben Augenblick wusste sie, dass diese Unterredung nun doch ganz nahe bevorstand, dass Otto doch etwas vorhatte, dieser unbegreiflich beharrliche Mann, den nichts dazu bringen konnte, etwas übereilt zu tun, der stets auf die richtige Stunde warten konnte.
Das Mittagessen verzehrten sie schweigend. Dann ging sie wieder in die Küche, um dort Ordnung zu schaffen, und sie verließ ihn, in seiner Sofaecke hockend, starr vor sich hin sehend.
Als sie, eine halbe Stunde später, wieder zurückkam, saß er noch immer so da. Aber jetzt wollte sie nicht noch länger warten, bis er sich endlich entschloss; seine Geduld, die eigene Ungeduld machten sie zu unruhig. Womöglich saß er um vier noch so da, und nach dem Abendessen auch noch! Sie konnte nicht mehr länger warten!
»Nun, Otto«, fragte sie. »Was gibt’s? Ist heute kein Nachmittagsschlaf wie alle Sonntage?«
»Heute ist nicht alle Sonntage. Mit ›alle Sonntage‹ ist es endgültig vorbei.« Er stand plötzlich auf und ging aus der Stube.
Aber heute war sie nicht gesonnen, ihn einfach wieder fortlaufen zu lassen, auf einen seiner geheimnisvollen Gänge, von denen sie doch nie etwas erfuhr. Sie lief ihm nach. »Nein, Otto …«, fing sie an.
Er stand an der Etagentür, deren Kette er eben vorgelegt hatte. Er hatte die Hand erhoben, um Stille zu gebieten, und lauschte in das Haus hinaus. Dann nickte er und ging an ihr vorbei wieder in die Stube. Als sie zu ihm kam, hatte er seinen Sofaplatz wieder eingenommen, sie setzte sich zu ihm.
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