»Aber, Liebste, Beste« – dies sagte die Mollige – »darum handelt es sich hier doch gar nicht. Sie ist die Gattin eines Obersturmbannführers. Sie verstehen doch?«
»Nein! Was hat das damit zu tun? Wo steht geschrieben, dass die Frauen von höheren Führern frei sind? Ich weiß davon nichts!«
»Seien Sie bloß nicht so begriffsstutzig!«, meinte die Weißhaarige streng. »Als Frau eines höheren Führers hat Frau Gerich höhere Pflichten. Sie muss für ihren überarbeiteten Mann sorgen.«
»Muss ich auch.«
»Sie hat große Repräsentationspflichten.«
»Was ist denn das?«
Nichts zu machen mit der Frau, nichts mir ihr anzufangen, sie sieht ihr Unrecht nicht ein. Sie will einfach nicht begreifen, dass höhere Führer mit all ihren Anverwandten von all ihren Pflichten gegen den Staat und die Gemeinschaft befreit sind.
Die Mollige mit dem Hakenkreuz ist es, die den wirklichen Grund für Frau Anna Quangels Hartnäckigkeit zu ermitteln meint. Sie entdeckt das Foto eines blässlich, unterernährt aussehenden Jungen an der Wand, mit einem Kranz und einer Trauerschleife geschmückt. »Ihr Sohn?«, fragt sie.
»Ja«, antwortet Anna Quangel kurz und verdrossen.
»Ihr einziger – gefallen?«
»Ja.«
Die Weißhaarige mit dem Mutterkreuz sagt milde: »Man soll eben nicht nur einen Sohn in die Welt setzen!«
Anna Quangel hat eine hastige Antwort auf der Zunge. Aber sie verkneift sie sich noch. Sie will nicht jetzt noch alles verderben.
Die beiden Damen tauschen einen Blick. Ihnen ist alles klar. Diese Frau hat den einzigen Sohn verloren, und da sieht sie solch eine Dame, von der sie meint, sie will sich einer kleinen Pflicht entziehen, nicht das geringste Opfer bringen … So was muss ja schiefgehen.
Die Mollige sagt: »Sie werden sich doch entschließen, eine kleine Entschuldigung vorzubringen?«
»Sobald Sie mir bewiesen haben, dass ich im Unrecht bin.«
Die Weißhaarige: »Aber ich habe es Ihnen bewiesen!«
»Dann habe ich es nicht begriffen. Für so was bin ich wohl zu dumm.«
»Na schön. Dann müssen wir es erst einmal allein versuchen. Ein schwerer Weg für uns.«
»Ich bitte Sie nicht darum!«
»Und dann, Frau Quangel, vorerst müssen Sie mal daran denken, sich zu schonen. Immer treppauf und treppab, und jetzt dieser Kummer. Sie sind ja eine unserer Fleißigsten gewesen.«
»Sie schmeißen mich also raus!«, stellt Anna Quangel fest. »Weil ich so einer Dame mal die Wahrheit gesagt habe!«
»Aber nein, um Gottes willen, fassen Sie das bloß nicht so auf! Vorläufig sind Sie erst einmal zur Schonung beurlaubt. Wir holen Sie uns wieder …«
Den Weg bis zum Friedrichshain legten die beiden Damen schweigend zurück. Sie sind ganz mit ihren Gedanken beschäftigt. Vermutlich hätten sie eben zu der Quangel viel schärfer sein müssen, sie auch anbrüllen und niederdonnern müssen. Aber das ist ihnen leider nicht gegeben – sie gehören zu jenen, die immer kuschen, sie sind wehrlos. Und weil sie das wissen, werden sie zum Fußabtreter für jeden, der schreien kann. Wenn es nur jetzt gutgeht mit diesem Besuch bei der hohen Dame, wenn sie nur (ohne die Hauptschuldige mitzubringen) ein einigermaßen günstiges Ergebnis nach Haus holen.
Aber sie haben Glück. Es ist jetzt doch – über all dem Telefonieren, Schreien, Besuchen – ziemlich spät am Abend geworden. Die gnädige Frau ist gerade beim Ankleiden, die gnädige Frau will in die Staatsoper. Aber sie dürfen auf zwei Hockern in der Diele warten.
Nach einer Viertelstunde werden sie dann von dem Mädchen gefragt, um was es sich denn eigentlich handele? Sie berichten es der Angestellten mit bedauerndem Flüstern und bekommen den Bescheid, weiter zu warten.
Aber in Wirklichkeit interessiert die ganze Sache Frau Obersturmbannführer Gerich kaum noch. Sie hat drei Stunden mit ihren Freundinnen telefoniert, sie hat gebadet, die Staatsoper erwartet sie, nachher ein gemütlicher Abend in der Femina – was soll da so ein Weib aus dem Volk die Dame der Gesellschaft noch groß interessieren? So sagt die Claire nach einer weiteren Viertelstunde zu ihrem Ernst: »Ach, geh und brüll die Weiber ein bisschen zusammen und schick sie weg! Ich will mir mit so was nicht den Abend verderben.«
So geht der Obersturmbannführer ein bisschen auf die Diele und brüllt die Besucherinnen zusammen. Er begreift dabei gar nicht, dass keine der beiden die eigentlich Schuldige ist. Das ist ihm ganz egal, er schreit sie an, und dann schmeißt er sie raus. Der Fall ist erledigt, endgültig!
Die beiden gehen nach Haus. Die Mollige sagt: »Eigentlich kann ich so ’ne Frau wie die Quangel manchmal direkt verstehen.«
Die Weißhaarige denkt an ihren Sohn und presst die Lippen fest zusammen.
Die Mollige fährt fort: »Manchmal wünsche ich es mir direkt, nichts weiter zu sein als eine einfache Arbeiterin, in der Masse zu verschwinden. Man wird so erledigt von diesem ewigen Vorsichtigsein, dieser nie ablassenden Angst …«
Das Mutterkreuz schüttelt den Kopf. »Ich würde lieber nicht so reden«, sagt sie kurz. Und sie setzt hinzu, als die andere gekränkt schweigt: »Jedenfalls haben wir die Sache auch ohne die Quangel, so gut wie es ging, hingekriegt. Er hat ausdrücklich gesagt, der Fall ist für ihn erledigt, und das melden wir nach oben weiter.«
»Und dass die Quangel abgesetzt ist!«
»Natürlich, das auch! Die will ich nie wieder auf unserer Geschäftsstelle sehen!«
Und sie bekamen sie dort auch nicht wieder zu sehen. Anna Quangel aber konnte ihrem Mann einen Erfolg melden, und so sorgfältig er sie auch ausfragte, es schien ein wirklicher Erfolg zu sein. Quangels waren beide ihre Ämter los, ohne Risiko …
1 Paul Joseph Goebbels war einer der einflussreichsten Politiker während der Zeit des Nationalsozialismus und einer der engsten Vertrauten Adolf Hitlers. <<<
18. Die erste Karte wird geschrieben
Der Rest der Woche verlief ohne alle besonderen Ereignisse, und so kam der Sonntag wieder heran, dieser Sonntag, von dem sich Anna Quangel endlich die so sehnlich erwartete und so lange aufgeschobene Aussprache mit Otto über seine Pläne erwartete. Er war erst spät aufgestanden, aber er war guter Stimmung und nicht ruhelos. Manchmal sah sie ihn beim Kaffeetrinken rasch von der Seite an, ein wenig aufmunternd, aber er schien das nicht zu merken, er aß, langsam kauend, sein Brot und rührte dabei in seinem Kaffee.
Nur schwer konnte sich Anna entschließen, das Geschirr fortzuräumen. Aber diesmal war es wirklich nicht an ihr, das erste Wort zu sprechen. Er hatte ihr für den Sonntag diese Aussprache zugesagt, und er würde schon sein Wort halten, jede Aufforderung von ihr hätte wie ein Drängen ausgesehen.
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