Aber ich bin doch nicht so geisteskrank und apathisch geworden, dass ich nicht noch einen Plan hätte und eine kleine Hoffnung. Gewiss, den Gedanken an das Schneidemesser habe ich aufgeben müssen, aber ich kann erleiden, ich vermag zu ertragen, was über mich hereinbricht. Ich bin, wie ich wohl ohne Überheblichkeit sagen darf, ein großer Dulder.
Ich habe noch nicht erwähnt, dass wir im untersten Stock des Anbaus immer fünf oder auch sieben Tuberkulöse liegen haben, ehemalige Leidensgefährten, die man von uns isoliert hat. Sie bekommen ein etwas besseres und reichlicheres Essen und brauchen nicht mehr zu arbeiten, bis sie sterben. Diese Kranken haben kleine Fläschchen, in die sie ihren Auswurf spucken, und ihre Isolierung ist nicht so streng, dass ich, der ich mich ziemlich frei im Bau bewegen darf, nicht manchmal ein solches Fläschchen erwischen könnte. Ich trinke es dann einfach aus. Ich habe schon drei solcher Fläschchen ausgetrunken, und ich werde noch mehr austrinken.
Nein, ich will nicht in diesem Totenhaus uralt werden und dann langsam verrecken, ich will einen Tod sterben, wie ihn alle draußen haben können – nach eigener Wahl. Ich bin sicher, ich bin heute schon tuberkulös. Ich habe ständig Stechen in der Brust und huste viel, aber ich melde mich nicht zum Arzt, ich verstecke meine Krankheit; ich will erst so krank sein, dass ich unter keinen Umständen gerettet werden kann.
Und dann, wenn ich erst im Anbau liegen werde und die letzte Stunde ganz nahe ist, werde ich den Medizinalrat zu mir kommen lassen, und ich werde zu ihm sprechen: »Herr Medizinalrat, ich habe Ihnen viel Kummer und Ärger gemacht, und Sie haben es mir nie verzeihen können, dass Sie meinetwegen Ihr bereits erstattetes Gutachten wieder umstoßen mussten, wodurch Ihr Ruf als Psychiater bei den Gerichten gelitten hat. Aber nun, da mein Tod ganz nahe ist, verzeihen Sie mir, und tun Sie mir noch einen letzten Gefallen.«
Und er wird seinen Frieden mit mir schließen, weil ich ein Sterbender bin, und man einem Sterbenden nichts abschlägt, und wird fragen, was für ein Gefallen das ist.
Und ich werde wieder zu ihm sprechen: »Herr Medizinalrat, gehen Sie ins Arztzimmer und mischen Sie mir mit eigener Hand aus Alkohol und Wasser einen Schnaps, nur ein Wasserglas voll. Nicht so einen, dass ich sofort hinstürze und nichts von ihm habe, wie damals, sondern einen, der mich wirklich noch einmal glücklich macht.«
Und er wird mir meinen Wunsch erfüllen und mit dem Glas an mein Lager treten, und ich werde trinken, nach so vielen Jahren der Entbehrung endlich wieder trinken, Schluck für Schluck, in langen Abständen, voll das unendliche Glück auskostend.
Und ich werde noch einmal jung werden, und ich werde die Welt blühen sehen mit allen Frühlingen und allen Rosen und den jungen Mädchen von eh und je. Eine aber wird vor mich treten und wird ihr bleiches Gesicht über mich, der vor ihr auf die Knie fällt, neigen, und ihre dunklen Haare werden mich ganz einhüllen. Ihr Duft wird um mich sein, und ihre Lippen auf den meinen liegen, und ich werde nicht mehr alt und verunstaltet, sondern jung und schön sein, und meine reine d’alcool wird mich hinauf zu sich ziehen, und wir werden entschweben in Rausch und Vergessen, aus denen es nie ein Erwachen gibt!
Und wenn mir so geschieht in meiner Todesstunde, werde ich mein Leben segnen, und ich werde nicht umsonst gelitten haben.
ENDE
Wer einmal aus dem Blechnapf frisst
Eine der ersten Taten der Nazis war es, dass sie dieses Buch vom Blechnapf auf die schwarze Liste setzten. Eine der ersten Taten des neuen demokratischen Deutschlands ist es, dieses Buch wieder zu drucken. Dies scheint mir beinahe symbolisch: Jede Zeile in diesem Roman widerstreitet der Auffassung, die von den Nationalsozialisten über den Verbrecher gehegt und durchgeführt wurde an ihnen. Jetzt ist wieder Platz für Humanität, für eine Humanität, die wohl frei ist von jeder Gefühlsduselei, die aber des Satzes eingedenk bleibt: Ihr lasst den Armen schuldig werden …
Ich habe bei diesem Neudruck keine Zeile geändert der ersten Auflage gegenüber. Vielleicht denke ich heute in manchen Dingen anders als damals vor elf Jahren, als ich dieses Buch schrieb. Um so mehr ein Grund, nichts zu ändern. Wir können unsere Bücher nicht in jeder Lebensphase umschreiben. Und im großen Ganzen hat für mein Gefühl noch Gültigkeit, was ich damals schrieb.
So gehe denn hinaus, Buch, in die Welt. Ich hoffe, dass auch du für dein Teil ein weniges beiträgst zur Humanisierung der Menschen – nach zwölf Jahren der Verrohung.
Berlin, am 1. Dezember 1945
H. F.
ERSTES KAPITEL – Reif zur Entlassung
Der Strafgefangene Willi Kufalt geht in seiner Zelle auf und ab. Fünf Schritte hin, fünf Schritte her. Wieder fünf Schritte hin.
Einen Augenblick bleibt er unter dem Fenster stehen. Es ist schräg aufgestellt, soweit die eisernen Blenden das zulassen, und herein dringt das Scharren vieler Füße, auch einmal der Ruf eines Wachtmeisters: »Abstand halten! Fünf Schritte Abstand!«
Station C 4 hat Freistunde, eine halbe Stunde gehen sie dort im Kreis, an der frischen Luft.
»Nichts haben Sie zu reden! Verstanden?!« ruft der Wachtmeister draußen, und die Füße scharren weiter.
Der Gefangene geht gegen die Tür, nun bleibt er dort stehen und lauscht in den Bau, der still ist.
Wenn Werner heute nicht schreibt, denkt er, muss ich zum Pfaffen gehen und betteln, dass sie mich in das Heim aufnehmen. Wohin soll ich sonst? Über dreihundert Mark macht mein Arbeitsverdienst sicher nicht. Die sind bald alle.
Er lauscht immer noch. In zwanzig Minuten ist die Freistunde vorbei. Dann kommen wir runter. Sehen, dass ich vorher noch was Tabak krampfe. Ich kann doch nicht die letzten zwei Tage ohne Tabak sein.
Er öffnet das Schränkchen. Sieht hinein. Aber natürlich ist kein Tabak da. Die Essschüssel muss ich auch noch wienern, sonst kotzt Rusch mich an. Putzpomade …? Besorgt mir Ernst.
Auf den Tisch legt er Jacke, Mütze, Halstuch. Wenn draußen auch ein strahlender, warmer Maitag ist, Halstuch und Mütze sind Vorschrift.
In zwei Tagen ist es ja überstanden. Dann kann ich mich anziehen, wie ich mag.
Er versucht sich vorzustellen, wie sein Leben dann sein wird, aber er kann es nicht. Da gehe ich also die Straße lang, und da ist eine Kneipe, und ich mache einfach die Tür auf und sage: Ober, ein Glas Bier …
Draußen, in der Zentrale, der Hauptwachtmeister Rusch schlägt mit dem Schlüssel gegen das Eisengitter. Es hallt durch den ganzen Bau, in sechshundertvierzig Zellen ist es zu hören.
Schwein das, mit seiner ewigen Krachmacherei, murrt Kufalt. Stimmt wieder was nicht, Ruscheken? Wenn ich nur wüsste, was ich anfange, wenn ich rauskomme! Die werden mich doch fragen, wohin ich entlassen werden will … Und wenn ich keine Arbeit weiß, wird mein Verdienst von hier an die Wohlfahrt überwiesen, und ich darf mir alle Wochen ein bisschen holen. Euch hust ich was! Lieber dreh ich noch mit Batzke ein großes Ding …!
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