Ich raste, die Bilder jagten sich in meinem Hirn, ich hatte Fieber. Meine Gefährten schliefen schon längst, und noch immer stand ich am Zellenfenster, spann das Gewebe meiner Rache immer dichter und verworrener, zum kalten Gefunkel der Sterne aufblickend.
Der Morgen kam und fand mich leer und in fast völliger Apathie. Ich werde mein Frühstück ja wohl mit den anderen gegessen haben, erinnern kann ich mich nicht daran. Noch vor dem Antreten zur Arbeit benutzte ich einen unbewachten Augenblick und schlüpfte in meine Arbeitszelle hinüber – der Anblick meiner Leidensgenossen ekelte mich. Ich nahm ein paar Borsten zwischen die Finger und versuchte, sie in das Bürstenloch einzuführen; ich hatte zu viele gegriffen, wie in meiner ersten Anfängerzeit! Ich ließ sie achtlos auf den Boden fallen und ging an den Schrank. Ich hatte jetzt in ihm Briefpapier und Umschläge, ich musste den Brief an den Anwalt schreiben. Aber, so dringlich mir das auch in der Nacht noch erschienen war, jetzt konnte ich mich nicht dazu aufraffen.
Ich starrte eine Weile auf das Papier, dann ging ich ans Fenster. Draußen herbstelte es schon. Graue Nebelschwaden zogen über das Land. Ich sah die ersten frühen Kartoffelbuddler zwischen den Reihen. »Es wird Herbst«, sagte ich zu mir. »Das ist schlimm.« Ich wusste selbst nicht, was ich meinte. Ich wusste nur, dass es schlimm um mich stand, sehr schlimm.
Zwei Zeilen eines Gedichts, das ich einmal gelesen, zogen mir durch den Kopf: »Dies ist der Herbst, der bricht dir noch das Herz.« Hartnäckig kamen sie wieder, sie wiederholten sich in mir mit einer verzweifelten Hartnäckigkeit. »Dies ist der Herbst, der bricht dir noch das Herz.« Zwei Worte gesellten sich noch dazu: »Fliege fort, fliege fort!« Ja, wer fortfliegen könnte von dieser beschmutzten Erde, von diesem besudelten Ich! Aber immer wieder: »Dies ist der Herbst, der bricht dir noch das Herz.« Und immer nachklingend die Mahnung: »Fliege fort! Fliege fort!«
Ich sah nach dem starken Schneidemesser hinüber, mit dem ich die Borsten glatt schnitt. Es würde ein Leichtes sein, sich mit ihm den Arm aufzuschneiden, dass ich verblutete. Aber ich wusste, ich würde nie den Mut dazu haben. Denn ich war feige, in dieser Minute gestand ich es mir rückhaltlos ein, dass ich ein Feigling war; bei der Aufzählung meiner schlechten Eigenschaften hatte Magda diese noch vergessen. »Fliege fort!« Und doch zu feige …
So fand mich der Oberpfleger, der mich unter den zu Verbindenden vermisst hatte. Er fuhr mich hart an: Meine Furunkel würden nie besser werden, wenn ich nicht selbst für regelmäßiges Verbinden sorgte!
Ich folgte ihm vollständig gleichgültig ins Arztzimmer. Der Strom der Leidenden hatte sich schon verlaufen, ich war der Letzte. Der Oberpfleger riss mir die Verbände ab, salbte und jodierte oder stach auch einmal in einen ihm reif scheinenden Furunkel. Und so empfindlich ich sonst gegen Schmerz bin, an diesem Morgen machte mir das alles gar nichts. Ich war völlig stumpf.
Dann klingelte das Telefon im Glaskasten. Der Oberpfleger ging dorthin, die Tür weit offenlassend. Einen Augenblick stand ich noch regungslos, dann suchte mein Blick den Medikamentenschrank, seine Tür stand weit offen. Rasch trat ich einen Schritt auf ihn zu. Dort lag Vergessen für viele Stunden, Auslöschen der unerträglichen Qual, unter der ich jetzt lebte. Gute, Frieden schenkende Schlafmittel für viele Tage. Meine Hand griff nach einem Glasröhrchen, als mein Blick auf eine Reihe Flaschen fiel, die im untersten Fach standen. Gleich vornan stand eine helle Flasche mit dem Etikett: »Alkohol 95%«.
Ich hatte keinen Entschluss gefasst, ich handelte rein mechanisch. Ich kümmerte mich auch nicht um die offenstehende Tür oder den Oberpfleger, der jeden Augenblick zurückkommen musste. Ich nahm die Flasche und ging zu dem in die Wand eingelassenen Waschtisch. Ich nahm ein Wasserglas und füllte es zu zwei Dritteln mit Alkohol, dann füllte ich Wasser nach, sehr vorsichtig. Meine Hand hat dabei nicht gezittert. Ich setzte das starke Gemisch an den Mund und trank es mit drei, vier Schlucken leer.
Einen Augenblick stand ich wie betäubt, eine ungeheure Helle breitete sich rasch in mir aus. Ich lächelte, ach, das Glück, noch einmal das schrankenlose, herrliche Glück. Meine Elinor, du reine d’alcool! Wie ich dich liebe! Wie – ich – dich – liebe! Dann bin ich bewusstlos vornüber zu Boden gestürzt, gerade auf mein geschändetes Gesicht.
Es hat keinen Termin meinetwegen gegeben. Das Verfahren gegen mich wurde nach § 51 eingestellt und meine dauernde Unterbringung in einer Heil- und Pflegeanstalt verfügt. Einen Scheidungstermin gab es wohl, aber ich brauchte zu ihm nicht zu erscheinen, damals war ich schon entmündigt. Ein Obersekretär, vorne in der Verwaltung der Anstalt, ist mein Vormund geworden. Übrigens sind wir beide schuldig geschieden, aber Magda hat ihren Heinrich Heinze heiraten dürfen, über meinen Antrag ist gar nicht verhandelt worden. Ich bin ja nur ein Geisteskranker. Ich habe die Heiratsanzeige in der Zeitung gesehen. Jetzt haben sie zwei Kinder, einen Jungen und ein Mädchen; sie haben die Geschäfte zusammengelegt …
Was geht mich das alles an? Was geht mich die Welt draußen noch an? Es ist mir alles gleichgültig geworden, ich bin ein alternder, abscheulich aussehender Bürstenmacher, mittlerer Arbeitsleistung, geisteskrank. Die Zeiten der ersten tobenden Verzweiflung sind längst vorbei, schon längst habe ich es aufgegeben, meinen Arm unter das Schneidemesser zu legen und zu versuchen, ob ich nicht vielleicht doch eine Minute meines Lebens mutig bin. Ich weiß, jede einzelne Sekunde meines Lebens war ich ein Feigling, bin ich ein Feigling, werde ich ein Feigling sein. Umsonst, auf etwas anderes zu warten.
Ich genieße ein bestimmtes beschränktes Vertrauen im Hause, ich falle nie lästig, ich mache keinem Arbeit, ich sondere mich von den anderen ab. Ich darf mich ziemlich frei bewegen im Bau. Nur darf ich nie das Arztzimmer betreten, ohne dass der Oberpfleger dabei ist, das ist mir bei acht Wochen strengem Arrest verboten. Ich möchte es oft, ich könnte es manchmal, aber ich wage es nie. Ich bin eben feige.
Ich habe eine behagliche Stellung, ich habe immer genug zu rauchen und leide nie Hunger. Zweimal in der Woche kauft mein Vormund von den Geldern, die meine frühere Frau regelmäßig für mich einzahlt, ein für mich, was mein Herz begehrt und was zulässig ist. Ich kann nie verbrauchen, was eingezahlt wird, ich werde als wohlhabender Mann sterben. Ich ahne es nicht, wer mich beerben wird, es interessiert mich auch nicht. Mein früher errichtetes Testament ist durch die Scheidung hinfällig geworden, und ein neues darf ich nicht errichten, ich bin nämlich geisteskrank.
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