Sie sah mich an, keine Zustimmung oder Verneinung war auf ihrem Gesicht zu lesen.
Ich redete weiter, schneller, atemloser. »Ich war auch noch nicht dort«, fuhr ich fort, »aber ich habe davon gelesen. Es ist die Stadt der baumbestandenen Boulevards, der weiten Plätze, der laubigen Parks … Als Junge habe ich ein bisschen Französisch gelernt, aber ich kam zu früh von der Schule, die Eltern hatten nicht Geld genug. Weißt du, was das heißt: ›Donnez-moi un baiser, mademoiselle‹?«
Kein Zeichen von ihr, nicht ja, nicht nein.
»Es heißt: ›Geben Sie mir einen Kuss, mein Fräulein.‹ Aber zu dir müsste man sagen: Donnez-moi un baiser, ma reine! Reine, das heißt Königin, und du bist die Königin meines Herzens, du bist die Königin des Giftes, das in Flaschen verkorkt wird, gib mir deine Hand, Elsabe – ich werde dich Elsabe nennen, Königin – ich will deine Hand küssen …«
Sie goss mir das Glas voll. »Da, trink das noch, und dann gehst du nach Haus. Genug – du hast genug getrunken, und ich habe genug von dir. Du kannst die Flasche Korn mitnehmen, du musst die ganze Flasche bezahlen, zum Gaststubenpreis. Das ist kein Nepp, komm mir morgen nicht, dass ich dich geneppt habe; du hast dir selber eingeschenkt, ich weiß nicht, wie viel …«
»Rede nicht, Elsabe«, sagte ich prahlerisch-weinerlich. »Nie würde ich so etwas tun! Was ist Geld …?!«
»Lehre du mich die Männer kennen! Wenn ihr voll und geil seid, schreit ihr: ›Was ist Geld?‹ Und am nächsten Morgen kommt ihr mit dem Gendarmen und schreit von Nepp. Der Korn und der Sekt und meine Zigaretten – das macht zusammen …« Sie nannte eine Summe.
»Wenn es nicht mehr ist!«, rief ich wieder prahlerisch und riss meine Brieftasche hervor. »Hier hast du …!« Ich legte ihr das Geld hin. »Und hier …«, ich nahm einen Hundertmarkschein und legte ihn daneben, »der ist für dich. Weil ich dich hasse und weil du mich verachtest. Nimm ihn, nimm ihn schon. Ich will nichts von dir, gar nichts! Geh. Ich habe dich schon so im Blut, ich kann dich nie mehr besitzen, als ich dich in mir habe. Wahrscheinlich bist du öde und langweilig, du bist nicht von hier, natürlich aus irgendeiner Großstadt, wo du alles gelassen hast – das sind ja nur Reste!«
Wir standen uns gegenüber, das Geld lag auf dem Tisch, das Licht war düster. Ich schwankte leise über meinen Füßen, die fast halb geleerte Kornflasche hielt ich am Halse in meiner Hand.
Sie sah mich an. »Steck dein Geld ein!«, sagte sie flüsternd. »Nimm dein Geld vom Tisch … Ich will dein Geld nicht … Geh …«
»Du kannst mich nicht zwingen, das Geld wieder zu nehmen, ich lasse es liegen … Ich beschenke dich, Königin des klaren Korns, Elsabe genannt, ich gehe …«
Ich ging mühsam auf die Tür zu, der Schlüssel steckte von innen, ich mühte mich, ihn im Schloss zu drehen …
»Du«, sprach sie dicht hinter mir, »du …«
Ich drehte mich um. Ihre Stimme war leise gewesen, aber voll und sanft, alles Spröde war aus ihr gewichen. »Du …«, wiederholte sie, und in ihren Augen war jetzt Farbe und Licht, »du – willst du?«
Jetzt war ich es, der sie nur schweigend ansah.
»Zieh deine Schuhe aus, sei leise auf der Treppe, die Wirtsleute dürfen dich nicht hören. Komm, mach schnell …«
Schweigend tat ich, wie sie mir geheißen. Ich wusste nicht, warum ich es tat. Ich begehrte sie jetzt nicht, so begehrte ich sie nicht.
»Gib mir die Hand!« Sie knipste das Licht aus und führte mich an der einen Hand, in der anderen hielt ich noch immer die Kornflasche.
In der Schankstube war es völlig dunkel, ich schlich ihr nach. Durch ein kleines staubiges Fenster fiel auf die verwinkelte enge Stiege Licht vom Mond.
Ich schwankte, ich war sehr müde. Ich dachte an mein Bett daheim, an Elsabe voller Wünsche, an den weiten Weg nach Haus – es war alles zu viel. Der einzige Trost war die Flasche Korn in meiner Hand, sie würde mir Kraft spenden. Am liebsten wäre ich stehen geblieben und hätte schon jetzt einen Schluck aus der Flasche genommen, so müde war ich.
Die Stufen knarrten, die Tür zur Kammer ächzte leise, als sie geöffnet wurde. Auch in der Kammer war Mondschein. Ein Bett, das zerwühlt war, ein eiserner Waschständer, ein Stuhl, ein Kleiderrechen an der Wand …
»Zieh dich aus«, sagte ich leise, »ich komme dann gleich.« Und mehr zu mir: »Gibt es hier Sterne?« Ich trat ans Fenster, das den Blick in einen Obstgarten freigab. Ich öffnete einen Flügel; lau wie eine zarte Liebkosung kam die Frühlingsluft herein, voll von Düften und sanftem Wind. Unter dem Fenster lag das schräge Teerdach eines Schuppens. »Das ist gut«, sagte ich wieder leise, »dieses schräge Dach ist sehr gut …« Ich konnte den Mond nicht sehen, er stand hinter dem Hausdach mir zu Häupten. Aber sein Licht erfüllte mit einem weißlichen Schein den Himmel, nur die stärksten Sterne waren zu sehen und auch sie nur matt. Ich war unzufrieden und gereizt.
»Komm schon«, rief sie ärgerlich vom Bett her. »Mach ein bisschen schnell! Denkst du, ich brauch keinen Schlaf?!«
Ich drehte mich um, ich beugte mich über das Bett. Sie lag auf dem Rücken, bis zum Halse zugedeckt. Ich streifte die Decke zurück und legte einen Augenblick mein Gesicht gegen ihre nackte Brust. Kühl und fest. Sachte atmend, kühl und fest. Es roch gut – nach Haar und Fleisch.
»Mach doch zu!«, flüsterte sie ungeduldig. »Zieh dich aus – lass den Unsinn! Du bist doch kein Schüler mehr!«
Mit einem tiefen Seufzer richtete ich mich auf. Ich ging an das Fenster, nahm die Flasche und schwang mich hinaus auf das Schuppendach. Ich hörte einen ärgerlichen zornigen Ruf hinter mir. Aber ich ließ mich schon hinab in den Garten.
»Besoffener alter Trottel!«, rief sie oben, dann schlug das Fenster zu.
Ich stand zwischen Büschen, ich roch den Duft des Flieders. Die Frühlingsnacht war ganz rein. Ich setzte die Flasche an den Mund und trank lange …
Ich gehe und gehe. Ich marschiere und singe mir ein Lied dazu, eines jener Wanderlieder, die ich früher bei Ausflügen mit Magda sang. Dann humpele ich wieder lange Strecken auf schmerzenden Füßen. Ich habe mir eine Zehe an einem Stein gestoßen, mit meinen unbeschuhten Füßen ist es schlechtes Wandern. Längst sind meine Strümpfe zerrissen. Kreuze ich einen Bach, klettere ich die Böschung hinunter, setze mich auf einen Stein und halte die Füße ins Wasser, das mich zuerst durch seine Eiseskälte erschreckt. Dann tut es gut, und, auf meinem Stein sitzend, schlafe ich ein.
Ich wache frierend, eisig auf, ich bin von meinem Sitz gefallen, ich wandere weiter. Je schneller ich gehe, umso länger scheint der Weg zu werden. Die Obstbäume an den Straßenrändern fliegen nur so an mir vorbei, aber ich komme nicht vorwärts. Ich weiß nicht, wo ich bin, nur sehr fern von Haus. Ich weiß nicht, wie spät es ist, aber noch ist es Nacht. Zwei Hände breit steht der Mond noch über dem Horizont.
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