Es ging immer wirrer in meinem Kopf zu, nicht nur das Essen, auch Magda hatte ich ganz und gar über meinen Gedanken vergessen. So schrak ich völlig zusammen, als sie mich mit echter Besorgnis in der Stimme fragte: »Was ist mit dir, Erwin? Bist du krank? Hast du Fieber – du siehst so rot aus?«
Ich griff gierig nach diesem Rettungsanker und sagte ruhig: »Ja, ich glaube wirklich, ich bin nicht ganz in Ordnung. Ich glaube, ich lege mich am besten einen Augenblick hin. Ich habe – ich habe solchen Blutandrang im Kopf …«
»Ja, Erwin, das tu. Lege dich gleich ins Bett. Soll ich Dr. Mansfeld anrufen?«
»Ach, Unsinn!«, rief ich ärgerlich. »Ich will mich nur eine Viertelstunde auf das Sofa legen, ich werde gleich wieder in Ordnung sein. Ich muss dann auch sofort ins Geschäft.«
Sie geleitete mich wie einen Schwerkranken zum Sofa, half mir, mich hinzulegen, und legte eine Decke über mich. »Hast du Ärger im Geschäft gehabt?«, fragte sie ängstlich. »Sage mir doch, was dich bedrückt, Erwin. Du bist ganz verändert!«
»Nichts, nichts«, sagte ich, plötzlich ärgerlich. »Ich weiß nicht, was du willst. Ein bisschen Schwindel oder Blutandrang – und gleich soll etwas mit dem Geschäft sein! Prima geht es mit dem Geschäft, einfach prima!«
Sie seufzte leise. »Also dann schlaf gut, Erwin!«, sagte sie. »Soll ich dich wecken?«
»Nein, nein, nicht nötig. Ich wache von selbst auf – in einer Viertelstunde oder so …«
Damit war ich endlich allein; ich legte den Kopf zurück, und der Alkohol floss nun in ungehemmter freier Welle ganz durch mich hindurch, mit einer samtenen Schwinge bedeckte er alle meine Sorgen und Kümmernisse, selbst den kleinen, ganz frischen Ärger, dass ich Magda so unnötig einen »prima« Gang der Geschäfte vorgelogen hatte, schwemmte er fort. Ich schlief … Ich schlief? Nein, ich war ausgelöscht. Ich war nicht mehr …
Es fängt schon an zu dämmern, als ich erwache. Ich werfe einen erschrockenen Blick auf die Uhr: Es ist zwischen sieben und acht Uhr abends. Ich lausche in das Haus, nichts rührt sich. Ich rufe erst leise, dann lauter: »Magda!« Aber sie kommt nicht. Ich stehe mühsam auf. Ich fühle mich am ganzen Körper zerschlagen, mein Kopf ist dumpf und meine Mundhöhle trocken und pelzig. Einen Blick werfe ich in das Speisezimmer nebenan: Kein Abendbrottisch ist gedeckt, und dies ist die Stunde, zu der wir sonst nachtmahlen. Was ist los? Was ist geschehen, während ich schlief? Wo ist Magda?
Nach einigem Überlegen taste ich mich nach der Küche hin; das Gehen fällt mir schwer, es ist, als seien alle meine Glieder steif und verbogen, sie bewegen sich so schwer in ihren Gelenken.
Ich habe halb erwartet, auch die Küche leer und halbdunkel zu finden, aber in ihr brennt das Licht, und am Tisch steht Else, mit irgendeiner Plätterei beschäftigt. Sie sieht erschrocken auf, als ich hereinkomme, und ihr Gesichtsausdruck wird auch nicht zutraulicher, als sie sieht, dass ich es bin. Ich kann mir wohl denken, dass ich etwas wüst aussehe. Plötzlich habe ich das Gefühl, am ganzen Körper schmierig zu sein. Ich hätte zuerst ins Badezimmer gehen müssen, früher hätte ich mich nie so gehen lassen.
»Wo ist meine Frau, Else?«, frage ich.
»Die gnädige Frau ist in die Stadt gegangen«, antwortet Else, mit einem kurzen, fast ängstlichen Aufblicken zu mir.
»Aber es ist Abendbrotzeit, Else!«, sage ich vorwurfsvoll, obwohl ich nicht die geringste Neigung habe, jetzt ein Abendessen einzunehmen.
Else zuckt erst die Achseln, dann sagt sie, wieder mit einem raschen Aufblick: »Es ist vom Geschäft angerufen worden; ich glaube, Ihre Frau ist ins Geschäft gegangen …«
Ich schlucke mühsam, ich fühle, wie mein Mund trocken geworden ist. »Ins Geschäft?«, murmele ich. »O du lieber Gott! Was will denn meine Frau im Geschäft, Else?«
Sie zuckt die Achseln. »Ich weiß doch nicht, Herr Sommer«, sagt sie, »die gnädige Frau hat mir nichts gesagt.« Sie besinnt sich, dann setzt sie hinzu: »Die haben gleich nach drei angerufen, und seitdem ist Ihre Frau fort …«
Über vier Stunden ist Magda also schon im Geschäft – ich bin verloren. Wieso ich verloren bin, weiß ich nicht, aber dass ich’s bin, das weiß ich. Ich werde schwach in den Knien, ich stolpere ein paar Schritte vorwärts und lasse mich schwer auf einen Küchenstuhl fallen. Den Kopf werfe ich auf den Küchentisch. »Es ist aus und vorbei, Else«, stöhne ich, »ich bin verloren. Ach, Else …«
Ich höre, wie sie mit einem erschrockenen Laut das Plätteisen aufsetzt, dann kommt sie zu mir gegangen und legt die Hand auf meine Schulter. »Was ist denn, Herr Sommer?«, fragt sie. »Ist Ihnen nicht gut?«
Ich sehe sie nicht, ich hebe das Gesicht nicht aus dem Schutz meines Armes, ich schäme mich vor diesem jungen Ding meiner hervorquellenden Tränen. Es ist ja alles aus und vorbei, alles verloren, Firma, Ehe, Magda – ach, hätte ich nur heute Mittag nicht auch noch den Rotwein ausgetrunken, davon ist erst alles so schlimm geworden, ohne das wäre Magda nie ins Geschäft gegangen. (Flüchtiger Nebengedanke: Das mit der leeren Rotweinflasche muss ich auch noch in Ordnung bringen!)
Else schüttelt mich leicht an der Schulter. »Herr Sommer«, sagt sie, »lassen Sie sich doch nicht so gehen! Legen Sie sich noch einen Augenblick hin, und ich mache Ihnen unterdes sofort Abendessen.«
Ich schüttele den Kopf. »Ich will kein Abendessen, Else! Meine Frau müsste jetzt hier sein, es ist doch Zeit …«
»Oder«, sagt Else überredend, »wollen Sie hier bei mir in der Küche ein bisschen essen, Herr Sommer?« Selbst etwas bedenklich: »Wo Ihre Frau doch fort ist …«
Dieser ganz unerhörte Vorschlag hat gerade durch seine Neuheit etwas Bestechendes. Hier in der Küche bei Else essen – was Magda wohl dazu sagen würde? Ich hebe den Kopf und sehe Else zum ersten Mal richtig an. Ich habe sie noch nie so angesehen, für mich war sie immer nur ein dunkler Schatten meiner Frau in den hinteren Regionen des Hauses. Jetzt sehe ich, dass Else ein recht nettes dunkelhaariges Mädchen von etwa siebzehn Jahren und etwas robuster Schönheit ist. Sie hat unter einer hellen Bluse eine volle Brust, und bei dem Gedanken, wie jung diese Brust ist, fühle ich eine Welle von Hitze über mich laufen.
Aber dann besinne ich mich. All dies ist unmöglich, schon mein Sich-vor-Else-Gehenlassen eben war ganz unmöglich. »Nein, Else«, sage ich und stehe auf. »Es ist sehr nett von dir, dass du mich ein wenig trösten willst, aber ich gehe jetzt besser auch ins Geschäft. Sollte ich meine Frau verfehlen, sage ihr bitte, ich sei auch ins Geschäft gegangen.« Ich wende mich zum Gehen.
Plötzlich wird es mir schwer, aus der Küche und von diesem freundlichen Mädchen fortzugehen. Ich stehe da noch einen Augenblick unter der Tür und sehe sie an. Es fällt mir auf, wie blass ihr Gesicht ist und wie gut die dunklen, hochgeschwungenen Augenbrauen dazu passen. »Ich habe viele Sorgen, Else«, sage ich unvermittelt, »und ich habe keinen, Else, der mir beisteht.« Ich wiederhole mit Nachdruck: »Keinen und keine, Else, du verstehst mich?!«
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