Otto Quangel ist aufgesprungen, bereit, seiner Frau zu Hilfe zu eilen …
Der Schutzpolizist, die fehlenden Hosenträger behindern ihn.
Der Präsident steht da und gebietet heftig, aber vergeblich Ruhe.
Die Beisitzer reden laut miteinander. Der Blöde mit dem stets offenen Mund schüttelt die Fäuste …
Der Ankläger Pinscher kläfft und kläfft, und niemand versteht ein Wort …
Die heiligsten Gefühle der Nation sind verletzt, die SS ist beleidigt, die Lieblingstruppe des Führers, die Elite germanischer Rasse!
Schließlich wird Anna Quangel aus dem Saal geschleppt, der Lärm beruhigt sich wieder, der Gerichtshof zieht sich zur Beratung zurück …
In fünf Minuten erscheint er wieder:
»Die Angeklagte Anna Quangel ist von der Teilnahme an der Verhandlung gegen sie ausgeschlossen. Sie bleibt von jetzt an in Fesseln. Dunkelarrest bis auf Weiteres. Wasser und Brot nur jeden zweiten Tag.«
Die Verhandlung geht weiter.
1 BDM, Bund Deutscher Mädel <<<
64. Die Hauptverhandlung: Der Zeuge Ulrich Heffke
Der Zeuge Ulrich Heffke, dieser Qualitätsarbeiter, der bucklige Bruder Anna Quangels, hat schwere Monate hinter sich. Der tüchtige Kommissar Laub hatte ihn mit seiner Frau gleich nach der Festnahme der Quangels verhaftet, ohne jeden stichhaltigen Verdacht, einfach nur, weil er ein Verwandter der Quangels war.
Von da an hatte Ulrich Heffke in Angst gelebt. Dieser sanfte Mensch mit einem schlichten, einfachen Geist, der sein Lebtag allem Streit aus dem Wege gegangen war, war von dem Sadisten Laub verhaftet worden, gequält, angeschrien, geschlagen. Man hatte ihn hungern lassen, gedemütigt, kurz, er war mit allen teuflischen Künsten gemartert worden.
Darüber war der Geist des Buckels völlig verwirrt geworden. Er hatte nur ängstlich gelauscht, was seine Quäler hören wollten, und er hatte dann besinnungslos auch die ihn belastendsten Geständnisse abgelegt, deren Widersinn ihm doch sofort bewiesen wurde.
Und von Neuem hatte man ihn gemartert, in der Hoffnung, von dem kleinen Buckel doch noch ein neues, bisher ungekannt gebliebenes Verbrechen zu erfahren. Denn Kommissar Laub handelte nach dem Satz dieser Zeiten: Jeder hat was ausgefressen. Man muss nur lange genug suchen, so findet man auch was.
Laub wollte und wollte es nicht glauben, dass er auf einen Deutschen gestoßen war, der kein Parteimitglied war und der trotzdem nie einen ausländischen Sender abgehört, eine defätistische 1Flüsterpropaganda getrieben hatte, der nie eine Lebensmittelverordnung übertreten hatte. Laub sagte es dem Heffke auf den Kopf zu, dass er die Karten am Nollendorfplatz für seinen Schwager eingesteckt hatte.
Heffke gab es zu – und nach drei Tagen konnte es ihm Laub beweisen, dass er, Ulrich Heffke, die Karten unmöglich eingesteckt haben konnte.
Kommissar Laub beschuldigte den Heffke nun des Verrates von Betriebsgeheimnissen in der optischen Fabrik, in der er arbeitete. Heffke gestand, und nach einer Woche mühsamer Ermittlungen konnte Laub feststellen, dass es in dieser Fabrik gar keine Geheimnisse zu verraten gab; niemand wusste dort, für welche Waffe eigentlich die Einzelteile, die man dort herstellte, bestimmt waren.
Jedes falsche Geständnis musste Heffke teuer bezahlen, aber das machte ihn nur verschreckter, nicht klüger. Er gestand blindlings, nur um Ruhe zu haben, einem weiteren Verhör zu entrinnen, er unterschrieb jedes Protokoll. Er hätte sein eigenes Todesurteil unterschrieben. Er war nichts wie Gallert, ein Häufchen Angst, das schon beim ersten Wort zu zittern anfing.
Kommissar Laub war schamlos genug, diesen Unglücksmenschen zusammen mit den Quangels in die Untersuchungshaft überführen zu lassen, obwohl nicht eines der Protokolle eine Beteiligung Heffkes an den »Verbrechen« der Quangels bewies. Sicher war sicher, mochte der Untersuchungsrichter sehen, ob er nicht doch etwas Belastendes aus dem Heffke herausbekam. Ulrich Heffke benutzte die etwas vielseitigeren Möglichkeiten der Untersuchungshaft dazu, dass er sich erst einmal aufhängte. Man fand ihn im allerletzten Augenblick, schnitt ihn ab und schenkte ihn einem Leben wieder, das ihm völlig unerträglich geworden war.
Von Stunde an musste der kleine Buckel unter noch viel schwereren Bedingungen leben: in seiner Zelle brannte die ganze Nacht Licht, ein Sonderposten sah in Abständen von wenigen Minuten durch die Tür, seine Hände waren gefesselt, und er wurde fast täglich zu einem Verhör geholt. Wenn der Untersuchungsrichter in den Akten auch nichts Belastendes gegen Heffke gefunden hatte, so war er doch fest davon überzeugt, dass der Buckel ein Verbrechen verbarg, denn warum hätte er sonst einen Selbstmordversuch machen sollen? Kein Unschuldiger tat das! Die gradezu blödsinnige Art Heffkes, jeder Beschuldigung erst einmal zuzustimmen, bewirkte es, dass der Untersuchungsrichter erst einmal zu den langwierigsten Vernehmungen und Ermittlungen schreiten musste, die dann ergaben, dass Heffke nichts getan hatte.
So kam es, dass Ulrich Heffke erst eine Woche vor der Hauptverhandlung aus der Untersuchungshaft entlassen wurde. Er kehrte zu seiner langen, dunklen, müden Frau zurück, die schon längst freigekommen war. Sie empfing ihn schweigend. Heffke war zu verstört, um zur Arbeit gehen zu können; er kniete oft stundenlang in einem Zimmerwinkel und sang mit angenehmer, leiser Falsettstimme Kirchenlieder vor sich hin. Er sprach kaum noch, und nachts weinte er viel. Sie hatten Geld gespart, so tat die Frau nichts, den Mann zur Arbeit anzuspornen.
Drei Tage nach seiner Entlassung bekam Ulrich Heffke schon wieder eine Ladung als Zeuge zu der Hauptverhandlung. Sein schwacher Kopf konnte es so recht nicht mehr fassen, dass er nur als Zeuge geladen war. Seine Aufregung steigerte sich von Stunde zu Stunde, er aß fast nichts mehr und sang immer länger. Die Angst, die eben erst überstandenen Quälereien sollten schon wieder losgehen, quälte ihn unendlich.
In der Nacht vor der Hauptverhandlung hängte er sich zum zweiten Male auf, diesmal rettete ihm sein dunkles Weib das Leben. Sobald er wieder atmen konnte, prügelte sie ihn gründlich durch. Sie missbilligte seine Lebensweise. Am nächsten Tage nahm sie ihn fest unter den Arm und lieferte ihn an der Tür des Zeugenzimmers dem Gerichtsdiener mit den Worten ab: »Der hat einen Vogel! Auf den müssen Sie gut aufpassen!«
Da das Zeugenzimmer schon gut besetzt war, als diese Worte fielen – es waren in der Hauptsache Arbeitskameraden von Quangel geladen, die Fabrikleitung, die beiden Frauen und der Postsekretär, die ihn beim Ablegen der Karten beobachtet hatten, die zwei Damen aus dem Vorstand der Frauenschaft und so weiter –, da also schon eine ganze Reihe von Zeugen anwesend war, als Anna Heffke diese Worte sagte, so passte nicht nur der Gerichtsdiener, sondern die ganze Zeugenschaft eifrig auf den kleinen Mann auf. Manche versuchten, sich die langweilige Wartezeit mit Neckereien des Buckels zu verkürzen, aber es wurde nicht viel damit: dem Manne sah zu sehr die Angst aus den Augen. Die Leute waren doch zu gutmütig, ihm viel zuzusetzen.
Читать дальше