Sich mit der Vergangenheit auseinandersetzen – das ist auch dann der einzige Weg zur inneren Befreiung, wenn es besonders weh tut, weil in der eigenen Familie die Wunden geschlagen wurden, die heute noch schwären. Eines der kleinen Mädchen von damals, das nach der Verhaftung seiner Mutter beim Vater im Westen lebte, ist Monika Kerner. Jetzt, fünf Jahrzehnte später, zog auch sie Bilanz:
„Was ich von meiner frühen Kinderzeit weiß, hat mir sehr viel später meine Mutter erzählt. Denn ich habe sie erst kennengelernt, als ich schon fünfzehn war.“
Im Mai 1948 – wenige Tage vor Pfingsten – hatten sich aufgrund einer haltlosen Denunziation die Zuchthaustore hinter der Verhafteten geschlossen. Später Herbst war es, als sie 1959 nach fast zwölf Jahren zu ihrer Familie hätte zurückkehren können. Aber auch für sie gab es keine Familie mehr. Bis die Entlassene die Möglichkeit fand, wenigstens ihre Tochter zu sich nehmen, brauchte es wiederum mehr als ein Jahr.
All die mutterlosen Jahre hatte das Kind, das junge Mädchen, ein wahres Aschenputtel-Schicksal durchlitten. Nur kommt in der Wirklichkeit keine gute Fee und kein Prinz verlassenen Kinder zu Hilfe. Über allen Erinnerungen der heute Fünfzigjährigen liegen die Schatten der Angst:
„Meine erste eigene Erinnerung: ein Himmel voller Sterne zur Nachtzeit. Ein Erwachsener führt mich an der Hand. Das mag in Würzburg gewesen sein, bei Onkel und Tante meiner Mutter .
Noch etwas anderes erinnere ich: Ich stehe in einem Gitterbett und sehe in einen entfernten Garten hinaus, wo eine schwarze Frau bügelt. Ich ängstige mich sehr. Vielleicht war die dunkle Frau eine Ordensschwester im Habit in dem Krankenhaus nahe bei Würzburg, in das meine Mutter mich Anfang 1948 hatte bringen lassen? In der ‚Ostzone’, wie man damals sagte, war es offenbar um die medizinische Betreuung der Kinder nicht gut bestellt. Ich sei gesund, beharrten alle befragten Ärzte in Halle. So blieb schließlich nur die Reise gen West und da stellte man wirklich fest, dass ich an einer schweren Hilusdrüsen-Tb litt. Ich war also wirklich sehr krank gewesen, wie meine Mutter so fest behauptet hatte .
Als Zweijährige hatte ich also um meiner Heilung willen die erste Trennung meines Lebens hinter mich bringen müssen. Sie muß sehr schmerzhaft gewesen sein. Meine Mutter erzählt, am Bahnhof hätte mein Vater mich mit Gewalt aus ihren Armen und aus denen meiner Kinderschwester wegreißen müssen, und sie beide seien tief bekümmert nach Hause gegangen – mit einem schlechten Gewissen, als hätten sie eben eine Gewalttat begangen.“
Der Ehemann und Vater Monika Kerners lebte damals schon im Westen. Er war Pilot gewesen, später Flug-Ausbilder. Militärische Routine hatte den Abiturienten in der Länge des Krieges zum Offizier werden lassen. Deshalb war er nach anfänglicher Zulassung wieder von der Universität Halle verwiesen worden.
Doch das war nicht der Grund für seine Flucht in den Westen gewesen. Nächtlicherweile holten die Sowjets damals immer wieder Menschen ab, deren militärische Kenntnisse ihnen als möglicherweise nützlich erschienen. Als seine Frau, LDP-Journalistin, vom kommunistischen Polizeipräsidenten von Halle vertraulich erfuhr, dass auch Piloten mit besonderen Qualifikationen zu den Begehrten zählten, bat sie ihren Mann, sich vorsorglich im Westen in Sicherheit zu bringen. All das hörte Monika Kerner erst sehr viel später von ihrer Mutter: So sah es damals das Kind:
„Als ich aus dem Krankenhaus entlassen werden konnte, hatten sich die Familienverhältnisse grundlegend geändert. Statt uns in den Westen zu folgen, wie es geplant gewesen war, war meine Mutter von den Russen verhaftet und zu fünfundzwanzig Jahren Zwangsarbeit verurteilt worden .
Mein Vater hatte eine Beschäftigung im Ruhrgebiet gefunden, wo seine verheiratete Schwester lebte. Sie und meine Cousine, fast im gleichen Alter wie ich, waren lieb und herzlich. Doch bis heute erinnere ich mich mit Schrekken furchtbarer Prügelattacken ihres Mannes, meines Onkels, die aus mir unerfindlichen Gründen immer wieder über mich hereinbrachen. Mein Vater war entweder nicht da, wenn das geschah – oder er war nicht stark genug, dem entgegenzutreten. Ich weiß es nicht. Ich sah mich gestraft und als ‚verkehrt‘ verurteilt, ohne verstehen zu können, warum. Seit damals verließ es mich nie mehr, dieses Gefühl, eben nicht ‚in Ordnung‘ zu sein .
Als ich viereinhalb war, trat eine Frau in mein Leben, die ich Tante Pia nennen mußte. Als ich ins zweite Schuljahr kam, zogen wir mit dieser Tante in eine gemeinsame Wohnung. Tante Pia kümmerte sich zwar um alles, was mich betraf, aber mit großer Distanz und Kühle. Ich erinnere mich nicht, dass sie mich jemals in die Arme genommen hat. Ihre Schwester, bei der ich die Sommerferien verbringen durfte, war der einzige Mensch, der mir Herzlichkeit und Wärme zeigte, bis ich 1960 meine Mutter wiedersah. Mein Vater hat es nie gewagt, vor Tante Pia seine Gefühle für mich offen zu zeigen. Denn dass er mich liebte – das glaube ich doch .
Allmählich ging Tante Pia dazu über, mir fast täglich laut ins Gesicht zu sagen, was sie über mich und meine Mutter dachte. ‚Wer eingesperrt wird, hat auch etwas getan!’, war die ständige Litanei. Die Frau, die mein Vater geheiratet hatte, meine Mutter also, war ohne Zweifel überaus herrschsüchtig, geltungsbedürftig, ehrgeizig, kaltschnäuzig – und noch dazu unsauber! – gewesen. So das Urteil der Tante Pia, die meine Mutter nie gesehen hatte. Die hätte sich auch nur für ihre Karriere als Journalistin interessiert, die sie nun schließlich auch ins Zuchthaus gebracht hätte: ein Schicksal, das eine solche Frau nur zu Recht getroffen habe! Auch ‚Politik’ hätte diese Person ja nur gemacht, um besser ihren Liebschaften nachgehen zu können. So Tante Pia wieder und immer wieder. Offensichtlich hätte meine Mutter meinen Vater ja auch nie geliebt, wäre ihm nicht treu gewesen, und das einzige Kind hätte sie ja nur gewollt, um nicht in der Rüstungsindustrie arbeiten zu müssen .
Das traf mich besonders. War das der Grund meiner Existenz? Und war ich überhaupt nur darum als Person so verkehrt, weil ich eine so verkehrte Mutter hatte? Ich haßte sie dafür, dass sie so schlecht war und mich so allein gelassen hatte – und habe doch zugleich nach ihr und ihrer Liebe geweint. Ja, ich habe es schließlich geglaubt, das mit meiner Geburt. Als meine Mutter zurückkam, habe ich es ihr vorgeworfen. Es hat lange gedauert, bis sie mich überzeugte, dass es Lüge war.“
Als Studentin im Kriegseinsatz hatte Monikas Mutter sogar eine interessante Arbeit bekommen. Sie war als Prüfingenieurin angelernt worden und arbeitete in der Firma Telefunken in Erfurt im Endprüffeld der Rundfunkfabrikation.
„Natürlich, mein Vater sei nun gerettet, meinte Tante Pia. Denn in ihr habe er eine wirklich gute Frau gefunden. Doch zwei Probleme blieben: Was würde geschehen, wenn diese schlechte Person etwa zurückkommen sollte – trotz der fünfundzwanzig Jahre Strafe? Und: Wie sollte man die Entwicklung des Abkömmlings dieser schlechten Person zum Guten lenken? Denn für Tante Pia gab es keine Zweifel: Aus einer schlechten Wurzel kommt nur ein schlechtes Reis!
Heute weiß ich: In der streng katholischen Sicht der Pia hingen zwei große Flüche über dem Leben unserer kleinen Familie. Es war ihr eigener moralischer Zwiespalt, in ständigem Ehebruch zu leben – dazu noch mit einem evangelischen Mann! Und es war die Existenz einer minderwertigen Tochter von einer minderwertigen, ehr- und pflichtvergessenen Frau.“
Auch die Mutter, Betty Prüfer, erinnert sich – an die Briefe, die sie von ihrem Kind in die Zuchthauszelle hinein erhielt. Einer hat sich besonders tief in ihr Gedächtnis eingegraben. Eines Tages öffnete eine der besonders kalten und harten Wachtmeisterinnen ihre Zellentür, einen Brief in der Hand. Und ehe sie den herausgab, sagte sie, Mitleid in Stimme und Blick: „Sie wissen, ich bin Ihnen ja nicht eben freund. Doch sie tun mir leid! Ich bin ja selber Mutter.“ Und dann mußte die Gefangene lesen, was ihre kleine Tochter ihr zu sagen hatte:
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