Zwiespältig war das – auf der einen Seite hat sie mich mit Arbeit schwer herangenommen. Schon als Elfjährige mußte ich Kohlen ausfahren und schon vor der zehnten Klasse aus der Schule als Putzfrau arbeiten. Von den zwanzig Mark, die ich damit verdiente, mußte ich den größten Teil zu Hause abliefern. Klar, das Geld wurde dort als Wirtschaftsgeld dringend gebraucht, aber einen Beruf zu erlernen, wo ich mehr verdiente, hat sie mir auch nicht erlaubt. Freizeit? Das war ein Fremdwort für mich. Mit anderen jungen Leuten zusammen sein, irgend etwas unternehmen? Wann hätte ich das denn tun können? Denn das war die andere Seite: So hart meine Mutter auch mit mir umging – sie verlangte kategorisch, dass ich jeden Abend bei ihr saß. Ob mir der Sinn danach stand oder nicht – stundenlang mußte ich mit ihr spielen – Halma, Dame und was es sonst so an Brettspielen gibt.“
Erst 1965 – da war Frau Thoma schon einundzwanzig – rang sie der Mutter die Erlaubnis zu einer beruflichen Ausbildung ab. Sie holte die zehnte Klasse der Schule nach, machte eine Lehre, erwarb einen Facharbeiterbrief, heiratete und begründete damit einen eigenen Hausstand. So hatte sie sich aus der Abhängigkeit von der Mutter gelöst. Doch von dem schwer lastenden Gefühl der Verantwortlichkeit für das Leben der Mutter befreite auch eine äußere Trennung nicht. Die bittere Klage „Für deinen Vater mußte ich sitzen!“, gar die absurde Idee „Wäre ich nicht mit dir schwanger gewesen, hätte ich flüchten können!“ – das alles hatte sich längst viel zu tief in das Bewußtsein der Tochter gegraben. Frau Thoma heute:
„Eines ist ganz sicher: Meinetwegen war ihre Gefangenschaft besonders schwer. Deshalb war ich immer bemüht, das wieder gutzumachen. Ich habe oft nicht verstanden, warum sie mich so zurückstieß. Aber bis zu ihrem Tode habe ich darum gekämpft, von ihr geliebt und anerkannt zu werden. Und sie hat das gewußt, aber sie konnte wohl nicht anders. Erst als sie im Sterben lag, hat sie mir endlich gesagt: ‚Oh Edeltraud – wie habe ich Dich behandelt! Und Du warst mir doch die Liebste!‘“
Den Schmerz der Tochter um die Mutter linderte die Zeit. Aber seit Frau Thoma nach dem Schicksal der „Verbrecherkinder“ forscht, zu denen sie selbst einst gehörte, verfolgen schlimme Bilder sie bis in den Schlaf. Das Kinderheim in Naunhof, das bis 1960 bestand, hatte fünfundzwanzig Plätze. Die dort untergebrachten Kinder waren in vier Gruppen zusammengefaßt. Neben den Kindern von SMT-erinnen gab es die, deren Mütter sogenannte „deutschverurteilte“ politische Gefangene waren, die allerdings in der DDR nicht als „Politische“ galten. Denn „Politische Gefangene“ gab es nicht in der DDR, nur „bestrafte Verbrecher“. Eine dritte Gruppe bildeten die Abkömmlinge hochstrafiger wirklicher Krimineller. Schließlich waren noch Kinder da, die – aus welchen Gründen auch immer ihren Eltern oder Verwandten weggenommen worden waren. Allen Gruppen gemeinsam war, dass ihr Aufenthalt unter strengster Geheimhaltung stand. Niemand durfte erfahren, wo die Kinder waren.
Nach außen machte das Heim in der August-Bebel-Straße 28 in Naunhof einen bescheidenen, aber ordentlichen Eindruck. Da es organisatorisch dem naheliegenden Kinderkrankenhaus angegliedert war, trugen die Betreuerinnen Schwesterntracht, auch wenn sie keine ausgebildeten Kinderschwestern waren. Der Name der damaligen Leiterin ist bekannt.
Körperliche Betreuung und Pflege war das offizielle Programm. Pädagogische Förderung war nicht vorgesehen. Auch für Spielflächen war kein Platz. Wickelkommoden und Kinderbettchen standen dafür viel zu eng, die Bettchen Gitter an Gitter wie im Zoo die Käfige für kleine Tiere. Doch es gibt auch andere Fotografien. Solche von lächelnden Betreuerinnen zum Beispiel, die sich liebevoll über Drei- oder Vierjährige beugen, oder ein Bild, auf dem sich Kinder um einen Kinderstuhl mit Teddybär gruppieren. Gesunder „Freiluftschlaf der Jüngsten“ wird durch eine Reihe von Kinderwagen im Grünen hinter dem Haus bezeugt. So weit, so gut?
„Wir haben bei dem Jugendamt, das auch damals schon regional zuständig war, einiges in Erfahrung bringen können. Gerne hat man uns allerdings nicht Auskunft gegeben. Da gab es zum Beispiel den folgenden Bericht:
In ein Laufgitter, zwei mal zwei Meter groß, wurden immer zehn bis zwölf Kinder gesteckt. Die brabbelten vor sich hin: ‚Hä-hä-hä‘ und wackelten dabei hin und her. Dann fiel eins nach dem anderen um. Dieses Hin und Her von einem Bein auf das andere auf der Stelle – manchmal hat man das schon von Elefanten gesehen, im Zoo. Tierschützer laufen Sturm, wenn sie solche durch die Gefangenschaft geschädigten Tiere entdecken. Der Arzt, der manchmal ins Kinderheim kam, sagte nur: Da ist nichts dabei. Die sind alle gesund und in Ordnung. Kinder machen einfach so!
Einmal hat allerdings der Arzt der Leiterin nahegelegt, die Stelle zu wechseln. Da hatte er bei einigen Kindern schwere Blutergüsse entdeckt, die offensichtlich von Mißhandlungen herrühren mußten .
Wie man die Kinder dressiert hat, dass sie sich still verhielten, geht auch daraus hervor: Die Anlieger wußten nicht, sie haben es nie bemerkt, dass neben ihnen ein Kinderheim war .
Seitdem wir uns wiedertreffen, einige, die damals zusammen waren, kommen auch manche Erinnerungen wieder. Tina Semmler weiß noch, dass man ihr einmal Erbrochenes wieder in den Mund gestopft hat – als Strafe, als hätte sie sich aus Bosheit übergeben. Eine andere Strafe war, dass man mit einer Wolldecke über dem Kopf im Bett stehen mußte, bis man umfiel. Oder dass sie einen im Keller mit einem kalten Wasserstrahl abgespritzt haben. Der Strahl war so stark, dass es einen wegschob oder man hinfiel. Oder man wurde in eine dunkle Besenkammer gesperrt. Tina meint sich zu erinnern, dass man sie einmal einen ganzen Tag in der Kammer gelassen hat. Sehr lang, unmenschlich lang für ein kleines Kind muß es jedenfalls gewesen sein .
Ach, im Strafen waren sie erfinderisch! Zum Beispiel konnte man dazu verdonnert werden, dabeizusitzen – ohne sich zu mucksen natürlich – und hungrig zuzugucken, wie die anderen aßen .
An etwas erinnere ich mich noch besonders: Alle Wände waren voller Bilder – Politiker, Staatsmänner und Soldaten, die das System damals ehrte. Die Namen kriegten wir eingepaukt und meisten einen kurzen Vers dazu – vier Zeilen oder so. Und wehe, wenn wir das nicht hersagen konnten aus dem Effeff – dann gab es wieder Strafen!
Belobigungen gab es wohl auch. Doch bisher haben wir ehemaligen Heimkinder alle zusammen da nur eines herausgebracht: Wer ‚brav‘ gewesen war, durfte, wenn es draußen sehr heiß war, auf der Bank sitzen und die Beine im kalten Wasser baumeln lassen .
Wir suchen noch weiter und haben auch noch Akten angefordert. Aber ob wir die je erhalten werden? In den Ämtern sitzen doch häufig noch die alten Leute von der SED, die das mit zu verantworten hatten. Und wenn nicht sie selbst, dann ihre Gesinnungsgenossen von damals!
Nur eines muß ich noch sagen: Mit meiner Gesundheit war es nie weit her, solange ich denken kann. Seitdem mir das alles wieder gegenwärtig ist aber, kann ich kaum noch schlafen.“
Seit der Öffnung der Nazi-KZs ist bekannt und erforscht, welche bleibenden Schäden politischer Terror sogar Erwachsenen setzte. Wie mußte das aber Kleinkinder treffen! Sie kannten ja kein anderes Leben. So mußten sie wohl für normal halten, was mit ihnen geschah. Was für ein Bild vom eigenen Wert als Mensch, als Person wurde jedem dieser hilflosen Kinder so in die Seele geprägt? War es ein Wunder, dass sie auch körperlich Schaden nahmen?
Macht Wissen jedoch nicht alles noch schlimmer, wenn es sogar den Schlaf raubt? Nein, Verdrängen macht krank! Das sagen die, die es wissen müssen, Ärzte und Psychologen. Der einzige Weg, der Hoffnung auf Heilung gibt, verläuft umgekehrt. Nur was das wache Bewußtsein benennen kann, das kann auch – bis in die Tiefenschichten der Seele hinein – ein einstmals Gequälter zu überwinden versuchen. Nicht die geringste Bedeutung dafür hat die Möglichkeit, Taten und Täter endlich öffentlich nennen zu können.
Читать дальше