Wir fuhren mit unserem alten gelben Opel. Ich sehe jetzt noch den besorgten Blick meines Vaters vor mir, als er mit meiner Mutter über das Auto sprach. Er hatte Angst, dass es diese Fahrt vielleicht nicht mehr schaffen würde, aber er wollte uns auch nicht den Urlaub vermiesen. Also überprüfte er noch einmal den Reifendruck, füllte das Motorenöl nach und schleppte seinen Werkzeugkasten in den Kofferraum – für alle Fälle. Als wir mit Packen fertig waren, war der Kofferraum bis oben hin gefüllt. Mutter hatte viel zu essen mitgenommen, damit wir nichts kaufen mussten. So sparten wir Geld, das sowieso an allen Ecken und Kanten fehlte. Ich wusste das, also hatte ich meinen Weihnachtswunsch auf diesen Urlaub beschränkt – mehr wollte ich gar nicht haben. Mein Bruder war da ausnahmsweise einmal meiner Meinung, obwohl er immer wieder auf dieses aufziehbare Auto zu sprechen kam. Peter war mehr als zwei Jahre älter als ich, aber mindestens genauso aufgeregt.
Und dann war es endlich so weit. Wir fuhren schon ganz früh am Morgen los. Mutter versuchte uns den weiten Weg über mit Spielen zu beschäftigen. Ab und an warf sie meinem Vater ängstliche Blicke zu, wenn er das Radio leiser stellte und allzu interessiert auf das Motorengeräusch achtete. Dann legten wir eine Pause ein und liefen, während sich der Motor abkühlte, ein wenig in der frostigen Gegend umher.
Fast den ganzen Weg über hatte es geschneit, sodass wir kaum voran kamen, aber irgendwann hatte unser altes Auto es doch noch geschafft. Das letzte Stück fuhren wir über einen schmalen Weg in den verschneiten Wald hinein.
Und da war es! Genau wie von Herrn Kleinschmidt im Plan aufgezeichnet. Das Jägerhäuschen! Die Autoreifen versanken im hohen Schnee und wir mussten Otto, so nannten wir den alten Opel, den Rest des Weges schieben.
Das machte uns jedoch nichts aus, denn wir freuten uns auf unser Urlaubshaus, dessen Spitzdach hoch mit Schnee bedeckt war. Es sah aus wie ein Lebkuchenhaus mit Pulverzucker, umsäumt von riesigen Tannen, deren Äste mit dicker klebriger Zuckerwatte umhüllt waren.
Als wir ausstiegen, schlug uns die kalte, würzige Tannenwaldluft entgegen. Es war bitterkalt und wir waren durchgefroren. Wir sehnten das prasselnde Feuer im Kamin herbei, doch zuvor musste Otto erst einmal ausgeladen werden.
Peter und ich liefen um die Wette, denn jeder von uns wollte zuerst seine Fußabdrücke im frischen Schnee hinterlassen. Als Vater die Hütte aufschloss, waren wir sehr gespannt. Es gab nur drei Zimmer, eine Wohnküche und zwei kleine Schlafzimmer.
Die Räume waren trist und kahl, abgesehen von den Rehgeweihen an den Wänden. Ich weiß noch, dass mir die Rehe so furchtbar leid getan haben. Nachdem wir das Auto ausgeladen hatten, versuchte Vater ein Feuer im Kamin zu entfachen, was ihm auch nach einer Weile gelang. In der Hütte gab es keine Elektrizität, doch wir hatten alles, was wir brauchten.
Mutter kochte auf einem Gaskocher und abends spielten wir etwas zusammen, im Gaslaternen- und Kerzenlicht. Ich hatte meine Eltern noch nie so unbeschwert erlebt.
Die ganze Nacht über hatte es durchgeschneit und auf den Sechseckfenstern des Jägerhäuschens hatten sich sternförmige Eiskristalle gebildet. Wenn man durch sie hindurchblickte, wirkte die winterliche Landschaft noch unwirklicher und märchenhafter. Am nächsten Tag erkundeten wir die Gegend und versanken im tiefen Schnee. Gemeinsam bauten wir Schneemänner, jeder einen, und Peter seifte mein Gesicht zum Schluss mit Schnee ein, weil er meinen Schneemann schöner fand als seinen.
Wir hatten vom Förster, auf den wir während unseres Erkundungsganges getroffen waren, die Erlaubnis erhalten, einen kleinen Tannenbaum zu schlagen, und das taten wir dann auch. Vater und Peter schleppten ihn nach Hause. Als wir die kleine Hütte wieder erreichten, waren wir bis zu den Knien nass, sodass wir unsere Kleidung vor dem Kamin trocknen mussten.
Nach dem Essen bastelten wir aus Papier und Popkorn Weihnachtsbaumschmuck und am Heiligen Abend lag für meinen Bruder ein silbernes aufziehbares Auto unter dem kleinen Tannenbaum. Über Peters strahlendes Gesicht vergaß ich ganz meine Puppe auszupacken, die ich zu Weihnachten geschenkt bekommen hatte. Wir sangen Weihnachtslieder und mein Bruder und ich trugen Gedichte vor.
In dieser kleinen Hütte, durch deren Ritze der Wind pfiff, ohne Strom und mit nur dem Notdürftigsten ausgestattet, verbrachte ich eine der schönsten Wochen meines Lebens. Nur die Familie, der kleine Tannenbaum und die vier Schneemänner vor der Türe.
Die besten Geschenke nutzen nichts, wenn man seine Zeit nicht mit den Menschen verbringen kann, die man am meisten auf der Welt liebt, denke ich und sehe auf meine Uhr. Jeden Moment wird mein Mann mit unseren Kindern nach Hause kommen und wie jedes Jahr werden die drei behaupten, dass dieser Tannenbaum, den sie ausgesucht haben, der schönste ist, den wir je hatten. Ich lasse sie in dem Glauben, schnuppere den würzigen Tannenbaumduft und denke an das Jägerhäuschen im Wald.
Martina Schneider lebt in Köln, singt, liest und schreibt gerne. Sie hat bereits eine Weihnachtsgeschichte veröffentlicht.
*
Auch Engel brauchen manchmal Hilfe
Es war einmal ein blondgelockter Rauschgoldengel. Er stand in der Mitte eines festlich geschmückten Tisches und hörte, wie das nette Ehepaar, das ihn auf dem Christkindlesmarkt gekauft hatte, das Weihnachtszimmer mit den Worten abschloss: „Schön, dass Jan noch an das Christkind und die Engelchen glaubt. Wenn er nächstes Jahr in die Schule kommt, ist dieser Zauber sicher schnell vorbei.“
Obwohl es im Zimmer dunkel war, spendeten die Flügel des Rauschgoldengels so viel schimmerndes Licht, dass er sich gut umsehen konnte. Unter dem festlich geschmückten Tannenbaum schlängelte sich eine Holzeisenbahn. Weitere Päckchen lagen in buntes Papier gehüllt zwischen den Gleisen. Mit einem verzückten Schrei sprang er vom Tisch auf den Boden. Fliegen wie die anderen Weihnachtsengel konnte er nicht, dazu waren seine Rauschgoldflügel viel zu groß und zu schwer. Er inspizierte die Lokomotive, die Güterwagons, den Miniaturbahnhof, den klitzekleinen Bahnhofsvorsteher und die Reisenden mit ihren Koffern, die kaum größer als ein Daumennagel waren. Liebend gern hätte er auch gewusst, was in den Päckchen versteckt war, doch er war ein wohlerzogener Engel: „Die Bescherung ist ja schon morgen“, bremste er seine Neugier. „Solange muss ich wohl noch warten. Aber Hunger und Durst hab ich heute schon. Vielleicht haben die Erwachsenen mir etwas Gutes übrig gelassen.“
An einem Tischbein zog er sich wieder nach oben. „Mmhm! Plätzchen, Lebkuchen! Sogar gebrannte Mandeln sind da!“ Er naschte von allem und wurde noch durstiger. So nippte er an einem roten Saft aus Bechern, die mit Bildern des Christkindlesmarktes verziert waren. „Lecker, lecker, muss ich sagen. Hier bleibe ich!“
Der kleine Engel war viel zu jung und unerfahren, um zu wissen, warum er sich plötzlich so unternehmungslustig fühlte. Obwohl die Eltern nicht mehr viel Glühwein übrig gelassen hatten, genügte es, dem kleinen Engel den ersten kleinen Schwips seines Lebens zu bescheren. Er sprang wieder vom Tisch herab, öffnete nun doch die Päckchen, guckte hinein und verschloss sie mehr schlecht als recht.
„Egal, ist ja nur bis morgen!“, entschuldigte er sich und musste einen Schluckauf niederkämpfen. Übermütig sprang er durchs Zimmer.
Klirr, klirr! Zwei Christbaumkugeln zerbrachen auf dem Parkettboden in viele glitzernde Stücke. Seine großen Flügel hatten sie vom Baum gerissen. Erschrocken hielt er inne. „Wenn rauskommt, was ich gemacht habe“, überlegte er laut, „werde ich zurück in die Schachtel verbannt und darf am Weihnachtsfest nicht teilhaben. Die Scherben müssen weg!“ Mit der breiten Seite seines rechten Flügels schob er die Scherben zusammen und knotete sie in seinen wallenden Rock. Dann kletterte er auf das Fenstersims und zog sich bis zum Fenstergriff hoch. Als er am offenen Fenster hing und die Scherben in den Garten werfen wollte, kam eine Windböe. Er verlor das Gleichgewicht und plumpste tief.
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