Eva lief vom Fenster weg zur Garderobe und schlüpfte rasch in Mantel und Schuhe. Als sie die Haustür aufriss, rief sie: „Opa, was machst du denn draußen?“ Sie hatte Mühe, den großen Fußstapfen zu folgen, ohne in den Schnee zu fallen.
„Was ich da mache? Das siehst du doch! Ich schneide Barbarazweige ab. Heute ist doch der Barbaratag!“, erklärte Großvater.
„Aber warum machst du das genau heute?“, wollte Eva wissen.
„Das ist ein alter Brauch, der geht schon viele Jahrhunderte zurück. Die heilige Barbara starb am 4. Dezember 306, und am Weihnachtstag sollen auf ihrem Grab Blumen geblüht haben. Wenn wir die Zweige heute ins Wasser stellen und sie gut pflegen und warm halten, dann kann es sein, dass wir zu Weihnachten Kirschblüten im Haus haben. Und da das ein Glücksfall ist, überträgt man dieses Glück auf das kommende Jahr.“ Der Großvater reichte Eva einige Zweige, während seine Augen weitere passende auf dem Baum suchten. Er wollte solche wählen, die dem Baum im Frühling nicht fehlten. Eva betrachtete die Zweige. Ihr fiel auf, dass die Knospen schon ganz schön dick und rund waren, obwohl es doch noch kalt und Winter war. Jede Knospe war gut in eine braune Hülle eingepackt. „Wenn es warm wird, sind die Knospen sofort bereit zu wachsen, dicker zu werden und dann auszutreiben. Diesen Frühling täuschen wir den Zweigen in der warmen Wohnung vor.“
Eva bewunderte diese Knospen, die in – sie rechnete rasch nach – zwanzig Tagen Blüten und Blätter treiben sollten. Sie konnte sich das gar nicht vorstellen. „Opa, das sind nur zwanzig Tage! Das ist doch unmöglich!“
„Wart’s ab! Vielleicht erleben wir eine Überraschung!“ Opa hatte genug Zweige geschnitten. Jetzt steckte er die Baumschere in die Jackentasche und gab Eva die letzten Zweige. Ein beachtlicher Strauß war das geworden!
Als sie zurück zum Haus stapften, bemühte sich Opa, kleine Schritte zu machen, damit Eva im knietiefen Schnee leicht nachkommen konnte. Er guckte einmal zurück und musste lächeln. Eva trug die Kirschzweige so andächtig wie einen teuren Blumenstrauß samt Kristallvase. In der Küche legte Opa die Zweige eine Weile in das Abwaschbecken mit Wasser, dann erst steckte er sie in einen hohen Krug. Während er Wasser einfüllte, erklärte er: „Auf dem Kaminsims haben sie es warm. Und außerdem sehen wir jeden Tag, ob sich an den Knospen etwas verändert. Nun heißt es warten und geduldig sein. Wir Menschen sind häufig ungeduldig, aber die Natur lehrt uns die Geduld!“
Eva guckte die Zweige lange an. In ihren Gedanken hatten sie schon zu blühen begonnen.
Elisabeth Seiberl aus Bad Leonfelden in Österreich ist als Lehrerin an einer Hauptschule tätig. Sie hat bereits mehrfach in Anthologien und Literaturzeitschriften veröffentlicht.
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Im Schein der Kerze
In seiner Werkstatt sitzt Tom. Er ist damit beschäftigt, ein paar besondere Kerzen für die Adventszeit zu gestalten. Schon in Kindertagen war es sein Wunsch gewesen, Kerzengießer zu werden. Noch heute, nach so vielen Jahren, hat er viel Freude an seiner Arbeit und denkt oft zurück an die Zeit, als sie damals als Kinder beim Schein der Kerze mit der Großmutter in der Dämmerstunde an langen Winterabenden saßen und ihren Geschichten lauschten.
Seine Kerzen sind sehr begehrt auf dem Wochenmarkt und finden schnellen Absatz. „Solche Kerzen sieht man nirgends sonst“, sagen seine Kunden. „Schön, dass Sie wieder da sind, ich brauche noch die eine oder andere Kerze als Geschenk.“ Solche Worte erfreuten den Mann und zeigen ihm, dass es richtig war, diesen Beruf zu ergreifen.
„Damit verdienst du doch nichts“, sagen andere. Aber das stört Tom nicht, denn er gibt mit jeder Kerze ein Stück Herz an seine Kunden weiter, ein wenig Liebe, mit der er jede einzelne seiner Kerzen erstellte – und das alleine ist ihm wichtig.
Heute steht er auf dem Weihnachtsmarkt. Viel hat er schon verkauft von seinem Angebot, da kommt eine alte Frau, die eine Kerze für ihr Adventsgesteck sucht. Gerade diese einzelne rot gedrehte ist die, die sie sich wünscht. Ihr weniges Geld reicht gerade noch für den Erwerb dieser einen Kerze.
Glücklich begibt sie sich mit ihrer Errungenschaft auf den Heimweg. Zu Hause fertigt sie sich ihr eigenes Adventsgesteck aus gesammelten Zweigen, Borke und Moos, Material, das sie von ihren Waldspaziergängen mitgebracht hatte. Durch diese Kerze wird das Gesteck zu einem liebevollen Kunstwerk. Am ersten Advent sitzt sie bei einer Tasse Tee und ein paar Plätzchen. Auf dem Tisch vor sich ihr Gesteck mit der leuchtenden Kerze. Sie sieht in die Flamme und träumt sich zurück in eine Adventszeit vor vielen Jahren, als ihre Kinder noch um sie saßen und lauschten, wenn sie sich für jeden Adventssonntag eine neue Geschichte ausdachte.
Da schreckt sie ihre Wohnungsklingel aus den Träumen. Wer da wohl etwas von mir will, überlegt sie, als sie sich zur Tür begibt. Vor ihr steht Vicky, ihre Enkelin. „Ich war hier in der Gegend und wollte mal nach dir schauen“, begrüßt sie ihre Oma.
„Komm herein, ich habe gerade Tee gebrüht“, freut sich die Alte. Beide sitzen nun zusammen und Oma erzählt, wie sie einst Weihnachten feierte. Wie es war mit sechs Geschwistern, das man sich riesig freute über eine Apfelsine, die man gerne miteinander teilte. Das junge Mädchen findet es schön, so mit ihrer Großmutter zusammenzusitzen. Als sie sich am Abend verabschieden, sagt sie: „Jetzt besuche ich dich öfter mal, es war wunderschön bei dir, Oma.“ Nun kann Advent auch für die alte Frau beginnen, sie fühlt sich nicht mehr vergessen.
Christina Telker wurde im Winter 1949 geboren, verlebte ihre Kindheit in einem abgelegenen Tal am Waldesrand. So entstand eine enge Verbundenheit zur Natur. Schon in frühen Jahren begann sie Gedichte und Geschichten zu schreiben. Später veröffentlichte die Autorin in verschiedenen Anthologien, 2007 folgte ein Weihnachtsbuch.
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Das erhörte Gebet
Es ist Weihnachten. Ich sitze alleine im warmen Wohnzimmer mit einer dampfenden Tasse Tee in meinem gemütlichen Sessel und blicke aus dem Fenster und auf die kahlen Bäume der Straße. Seit Jahren hat es zu Weihnachten nicht mehr richtig geschneit – ein Jammer. Ich lausche dem Läuten der Kirchturmglocken, die hell und eindringlich die Menschen rufen und die heilige Messe ankündigen. Wie viele Kinder wohl dieses Jahr mit ihren Familien zum Gottesdienst gehen, frage ich mich und schweife gedanklich in meine eigene Jugendzeit ab. Es ist schon viele Jahre her, doch ich werde dieses Erlebnis wohl niemals im Leben vergessen.
Es war zur Weihnachtszeit. Meine Familie war ziemlich arm, hatte nicht das Geld, in Urlaub fahren zu können. Wir waren nie gemeinsam in Urlaub gefahren und ich hatte in der Kirche um einen Urlaub gebetet, weil meine Freundinnen alle wegfuhren und begeistert von ihren Abenteuern erzählten, ich aber nie etwas zu erzählen hatte. Ich war ungefähr acht Jahre alt, hatte blonde, meist geflochtene Zöpfe und eine Menge Sommersprossen. Ich saß in der Kirche zwischen meinem Bruder Peter und meiner Mutter. Mein Blick blieb auf dem großen Tannenbaum haften, der in der Nähe des Altares stand. Ich konnte mich kaum noch auf die Worte des Pfarrers konzentrieren, denn in Gedanken sah ich unseren bunt geschmückten Tannenbaum mit den herrlichen Lichtern vor mir, in den Ästen das Engelshaar. Doch dann kehrten meine Gedanken wieder zurück zu meinem innigsten Wunsch und ich betete voller Inbrunst für einen Urlaub – und das Wunder wurde wahr. Ein Freund und Arbeitskollege meines Vaters wurde krank und überließ uns eine Woche seine Jägerhütte im Schwarzwald. Unsere Freude war riesengroß.
Peter wollte beinahe sein halbes Zimmerinventar mitnehmen, bevor meine Eltern ihn bremsten. Ich hatte vom Pflaster bis zum Nähzeug alles Wichtige in meinen Koffer gepackt, den ich für die Reise von meiner Oma geschenkt bekommen hatte. Es war zwar ein alter schäbiger Koffer, der sich schon gar nicht mehr richtig schließen ließ, aber es war mein Koffer, meiner! Und ich fuhr damit in Urlaub. Mein eigenes Abenteuer, von dem ich meinen Freundinnen würde erzählen können. Dass für dieses Erlebnis erst jemand krank werden musste, störte mich kaum, wusste ich doch, Herr Kleinschmidt würde schon bald wieder gesund werden. Also konnten wir – ohne schlechtes Gewissen – unseren Urlaub antreten.
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