Es war gar lustig anzusehen, wie die Kinder so fröhlich und unbeschwert in der weißen Winterwelt zu toben begannen.
So saß Schneeflöckchen auf seinem weichen Wolkenkissen, sah herab und konnte ein Staunen nicht verbergen. „Ach, könnte ich auf die Erde hinab, nur ein einziges Mal“, seufzte es. Doch die Elfenkönigin wollte davon nichts hören und antwortete auf sein Bitten stets abweisend: „Wir Winterelfen haben dort nichts verloren. Einzig und allein unsere Aufgabe ist es, für den Schneezauber Sorge zu tragen, damit die Erdenbewohner das Fest der Liebe begehen können.“
„Das Fest der Liebe?“
„Ja, die Heilige Nacht“, antwortete die Königin. „Sei vernünftig und schlag es dir aus dem Kopf!“
Tage vergingen. Die Elfenprinzessin blickte sehnsüchtig den Flocken nach, die langsam zur Erde schwebten. Ihr Verlangen wurde unendlich groß. Gern hätte sie etwas über die ‚Heilige Nacht’ erfahren, es mit eigenen Augen gesehen und mit dem Herzen gespürt. Doch hier oben, im Himmelsschloss der Feen, gab es diesen weihnachtlichen Zauber nicht. So blieb ihr nichts anderes übrig, als zuzuschauen.
Eines Abends, als die kleine Elfe voller Sehnsucht wieder auf die Erde sah, war dort alles still und friedlich. Doch plötzlich fiel ihr ein Knabe auf, der sich keineswegs über das bevorstehende Fest zu freuen schien. Einen Schlitten mit Holzscheiten hinter sich herziehend, stapfte er traurig aus dem nahegelegenen Tannenwald. Ohne lange zu überlegen und das Verbot ihrer Mutter missachtend, ließ sich die Elfe mit den Schneeflocken zur Erde gleiten.
Sanft landete sie auf dem Weg vor dem Knaben. Dieser blieb erstaunt stehen, als er das himmlische Geschöpf sah. Klein und zart saß es mitten im Schnee und sah so gar nicht verängstigt drein. Keck schaute sein Gesicht aus dem weißen Pelzmäntelchen hervor. Die zierlichen Füße verbarg es in geschnürten Stiefelchen und in dem weiß gelockten Haar glitzerte feiner Elfenstaub. Schneeflöckchen stand auf, zupfte sein bauschiges Mäntelchen ordentlich und strich sich das Haar aus der Stirn.
„Schickt dich, zauberhaftes Wesen, das Christkind?“, fragte der Knabe verwundert.
Das Elfchen antwortete wahrheitsgemäß: „Nein, vom Christkind komm’ ich gewiss nicht daher.“
Der Junge kniete nieder und nahm es behutsam auf die Hand. „Woher kommst du dann?“
Schneeflöckchen antwortete sogleich: „Aus dem Wolkenschloss der Winterelfen.“
„Aber was tust du hier, mitten im kalten Schnee, und bist nicht bei deinesgleichen?“
„Ich möchte die Heilige Nacht sehen!“
„Die Heilige Nacht?“
Das Elfchen nickte und antwortete mit erwartungsvoller Stimme: „Ich habe davon gehört! Wie gern möchte ich sie sehen.“
Der Knabe überlegte einen Augenblick. Wie konnte so etwas sein? Am Heiligabend begegnete er einer Elfe anstatt dem Christkind, auf das er schon so viele Jahre vergeblich wartete. „Wenn dies dein Wunsch ist, so will ich sie dir zeigen, aber erwarte nicht zu viel. Einen Christbaum haben wir nicht, denn die Mutter ist krank und liegt schon seit Wochen darnieder. Viel nennen wir nicht unser Eigen, aber die Großmutter hat ein Fladenbrot gebacken. Sicher wird sie dir davon geben, damit du deinen Hunger stillen kannst.“
Schneeflöckchen zögerte einen Augenblick, dann bat es den Jungen: „Nun sag mir, warum schaust du so bekümmert drein, wenn doch heute Heiligabend ist?“
„Warum sollte ich nicht, wo das Christkind schon seit langem ausbleibt!“
„Willst du’s mir nicht erzählen?“, fragte Schneeflöckchen mit sanfter Stimme.
Gemächlich trabte der Junge weiter und begann zu berichten: „Vor vielen Jahren trieb eine böse, alte Amme, welche mit dem Teufel im Bunde stand, ihr Unwesen. Sie hatte es sich zu eigen gemacht, jedes Kindlein, welches in der Heiligen Nacht geboren wurde, zu holen und in ihre Obhut zu nehmen. Am Heiligen Abend hämmerte die Amme nun an Großmutters Tür und forderte das soeben geborene Kind, um es des Teufels Braut werden zu lassen. Aber die Großmutter schickte die Amme in die Hölle, denn nie und nimmer wollte sie sich von ihrem Töchterchen trennen. Daraufhin stieß das böse Weib einen grausigen Fluch aus und rief zornig: Erst wenn die Rosen im Schnee erblühen, soll das Christkind wieder zu euch finden. Derweil soll Hunger, Armut und Krankheit euer ständiger Begleiter sein und nicht von euch weichen.“ Nachdem der Knabe geendet hatte, blieb er stehen, wischte sich mit dem Ärmel die Tränen aus dem Gesicht, öffnete eine Gartenpforte und zog den Schlitten hinter einen Holzverschlag. Schneeflöckchen setzte er auf dem Fenstersims nieder und sprach: „Nun, so will ich dir jetzt deinen Wunsch erfüllen.“
„Ich danke dir!“, erwiderte das Elfchen, „aber zuvor möchte ich, dass du allein in die Hütte gehst.“
„So soll es geschehen“, antwortete der brave Knabe, nahm ein paar Holzscheite vom Schlitten und trat in die Hütte hinein.
Hier empfing ihn eine wohlige Wärme, denn im Kamin prasselte bereits ein lustiges Feuer. Sein Schwesterchen kam geschwind auf ihn zu und rief freudig: „Schau, Ludwig, das Christkind war da!“ Dann nahm es den Bruder bei der Hand und zog ihn ins Zimmer, wo die Großmutter bereits auf ihn wartete. Begierig schweifte sein Blick durch die Stube und augenblicklich entdeckte er etwas Wundervolles: einen Christbaum. In der hintersten Ecke leuchtete er unter den vielen Wachskerzen, geschmückt mit üppigen Leckereien und war gar lieblich anzusehen. Wahrlich hingen an den zarten grünen Zweigen bunte Zuckerkringel, Marzipanfrüchte, Kandis und Lakritzestangen. Darunter stand ein Tellerchen mit Nüssen, umgeben von rotbäckigen Äpfeln, Lebkuchen und gebackenen Plätzchen. Neben der Ofenbank lagen für jedes Kind ein warmes Winterzeug sowie mit Silberschleifen verzierte Gaben. Augenblicklich öffnete sich die Kammer und die Mutter trat heraus, umarmte und herzte die Kinder und dankte dem Christkind.
Schneeflöckchen sah durch das erleuchtete Fenster in die Stube und sein Herz klopfte. Die Heilige Nacht, ja so muss sie wohl sein, dachte es. Wie gern wäre es im Lichterglanz um das Bäumchen gesurrt und hätte von den Köstlichkeiten genascht. Gerade wollte es in den Himmel entschweben, als sich die Hüttentür öffnete und Ludwig aus der Tür trat. Verlegen sah Schneeflöckchen zu ihm auf und sprach: „Nun muss ich mich aber sputen und eiligst wieder zum Himmelstor hinauf.“
Der Knabe nahm das Elfchen auf die Hand, führte es an seine Lippen, küsste es liebevoll auf die Stirn und nahm von ihm Abschied. Lange sah er Schneeflöckchen nach, bis es vollends in der Dunkelheit zwischen den Sternen entschwand. Als er sich umwandte, erblickte er zu seinen Füßen zarte Christrosen im Schnee, so weiß und rein, wie es nur Schneeflocken sein können.
Kathrin Dietze wurde 1963 in Erfurt geboren.
*
Vom Tannenbaum, der kein Weihnachtsbaum werden wollte
Inmitten eines Waldes, nahe der Stadt Himmelspforte, standen eine große und eine kleine Tanne. „Es wird Winter“, sagte die große Tanne zu der kleinen Tanne. „Dann ist bald Weihnachten und die Menschen kommen, um uns aus dem Wald zu holen. Sie feiern ein großes Fest. Sie nennen es Christfest. Wir Tannenbäume werden wunderbar geschmückt. In Rot oder Weiß, in Silber oder Gold. Vielleicht mit Kugeln oder mit Sternen und Engeln. Ich freue mich darauf.“
„Ich aber nicht!“, entgegnete die kleine Tanne. „Ich will nicht von den Menschen geholt werden. Ich will kein Weihnachtsbaum sein! Hier im Wald habe ich meine Freunde. Das Rotkehlchen kommt jeden Tag und singt mir ein Lied. Was soll der Specht denken, wenn ich nicht mehr da bin und er sich auf meinen Zweigen nicht mehr ausruhen kann von seiner schweren Arbeit? Und die Fuchsfamilie, die gleich hier um die Ecke ihre Höhle hat! Die Kleinen spielen jeden Tag unter meinen Zweigen!“
Читать дальше