Familienmitglieder, Quartierbewohner und unzählige Bewohner aller möglichen Städte werden aber dann rasch unter einer anderen Perspektive zu einer homogenen Identität, wenn Inländer gegenüber Ausländern abgegrenzt werden. Hier entsteht eine Identität und Verbundenheit mit den Bewohnern des eigenen Landes gegenüber den Bewohnern aller anderen Länder (Inländer versus Ausländer). Die Konkurrenz, die vielleicht gerade noch bei einem Fußballspiel zwischen zwei Ländern sehr ausgeprägt war, kann in einer neuen Identität – theoretisch – aufgelöst werden, wenn ein Spiel zwischen verschiedenen Kontinenten angesetzt würde. Würden nun die Konkurrenten von eben zum Beispiel in einer Europaauswahl gegen eine Auswahl des amerikanischen Kontinents antreten, würden wir den noch kurz zuvor als feindlich erlebten Konkurrenten ob seiner großen Qualitäten freudig in unserer eigenen kontinentalen Mannschaft begrüßen. Wir könnten uns mit der neu geschaffenen Mannschaft in ähnlicher Weise identifizieren, wie wir es zuvor mit der Ländermannschaft getan haben. Wenn wir dieses Prinzip noch eine Stufe weitertreiben, dann könnte man theoretisch das Szenario eines Kampfes der Menschheit gegen Außerirdische konstruieren. In diesem Fall würden wir uns stark mit der gesamten irdischen Menschheit identifizieren, die zum Kampf gegen die Außerirdischen antritt. Alle Abgrenzungen und Unterschiede, die zuvor in allen möglichen Facetten dazu geführt haben, viele andere Menschen als fremd, anders und sicher nicht zu unserer Gemeinschaft gehörig anzusehen, wären mit einem Schlag verschwunden oder zumindest zeitweise erheblich relativiert.
Wir erkennen an diesen Beispielen, wie flexibel wir sind, die jeweiligen Abgrenzungen und Zugehörigkeiten anzupassen. Zentral bleibt aber immer ein Prinzip: Abgrenzung und das Erleben von Unterschiedlichkeit schaffen Identität. Wer zu einer eigenen Identität bzw. einer eigenen Gruppe gehört und wer nicht, hängt davon ab, unter welchen Kategorien wir die jeweiligen Personen subsumieren. Die Flexibilität besteht darin, dass wir problemlos sehr enge oder aber sehr weit gefasste Kategorien mit einem eigenen Identitätserleben und dem entsprechenden Gefühl von Verbundenheit koppeln können. Diese Fähigkeit ist Teil unseres Kooperationspotenzials, das uns die Evolution als ein Standardprogramm mitgegeben hat.
Ein häufig praktizierter Mechanismus, um sich positiv zu identifizieren, ist es übrigens, die anderen, von denen man sich abgrenzt, zu disqualifizieren. Es ist z. B. weit verbreitet, über andere (Mitglieder einer anderen Abteilung, einer anderen Berufsgruppe, einer anderen Firma, Angehörige einer anderen Rasse, Bewohner einer anderen Stadt, Vertreter einer anderen Überzeugung etc.) schlecht zu reden. Jeder kennt Alltagssituationen, in denen das zu beobachten ist. Gemeinsam über andere Personen schlecht zu reden, ist gut für das eigene Selbstwertgefühl. Weil die anderen Idioten sind, steht man selbst besser da – denn man ist ja anders. Gemeinsam über andere schlecht zu reden, erzeugt ein wohltuendes Gemeinschaftsgefühl. Es ist zudem eine gute Strategie, Konflikte in der eigenen Gruppe, in der eigenen Familie zu verdecken. Sie vermittelt bequeme Erfolgserlebnisse, ohne dass man eine eigene Leistung dafür erbringen muss. Andere Menschen zu diskreditieren, erzeugt in diesem Sinne Sicherheit: Wir sind auf der richtigen, der stärkeren Seite etc.
4.6Das Verhältnis Mensch – Tier: Ein Beispiel für die Aktivierung und Deaktivierung des Kooperationspotenzials
Wir haben gesehen, dass unsere Vernunft durch eine Reihe psychologischer Mechanismen verdünnt und zurechtgebogen wird, um aus evolutionärer Sicht nicht mehr zu schaden, als sie nutzt. Ihrem Prinzip »Besser falsch, dafür aber schnell und/oder eindeutig« kann man noch hinzufügen, dass die Aufrechterhaltung einer stimmigen Identität ebenfalls ein wichtiges Ziel darstellt. Da soll uns weder die Vernunft in die Quere kommen, noch sollen uns alltägliche Handlungen zu sehr erschwert werden. So ist auch die Aktivierung oder die Deaktivierung des Kooperationspotenzials in vertraute und bequeme Erklärungen eingebettet. Sie unterliegen den vielfältigen, vorangehend dargestellten psychologischen Mechanismen. Man kann einige dieser Mechanismen gut am Beispiel des Verhältnisses zwischen Mensch und Tier demonstrieren.
Die meisten Menschen empfinden sich als tierlieb. Zwar steigt seit einigen Jahren die Zahl derjenigen, die aufgrund dieser Haltung auf Fleischkonsum verzichten. Die Mehrheit isst aber Fleisch, ohne das als einen scharfen Widerspruch zur eigenen Einstellung wahrzunehmen. In einer sehenswerten Fernsehdokumentation des Schweizer Fernsehens wurden einige Personen porträtiert, bei denen dieser Widerspruch besonders deutlich zum Vorschein kommt. [14]
Zu diesen Personen gehörte ein passionierter Jäger, der das Töten von Tieren offensiv als wichtigen Teil seiner Identität vertrat. Gleichzeitig hatte er eine sehr innige Beziehung zu seinem Jagdhund. Dem hatte er einen Namen gegeben und vergötterte ihn fast ein wenig. Ein anderes Beispiel ist, dass sich die meisten Menschen über Länder empören, in denen Hunde und Katzen gegessen werden. Aber worin genau soll der Unterschied zu der Gewohnheit bestehen, Kälber und Lämmer zu verspeisen?
Die Beispiele zeigen, wie flexibel wir darin sind, zu Lebewesen einen persönlichen Bezug zu entwickeln und gleichzeitig einer Vielzahl eben dergleichen Lebewesen jede Daseinsberechtigung abzusprechen. Ein gutes Stück Fleisch auf dem Teller, leckere Hähnchenschenkel im Supermarkt. So nehmen wir im Alltag das Fleisch von Tieren wahr, so kategorisieren wir die Wirklichkeit. Es ist theoretisch nicht schwierig, sich durch den Verstand bewusstzumachen, dass es sich um Leichenteile von Tieren handelt. Vielleicht haben wir auch schon manchmal darüber nachgedacht und den Widerspruch zu unserer ansonsten empfundenen Tierliebe erkannt. Solche Momente sind aber eher selten und haben keine zwingende Konsequenz. Die alltägliche Kategorisierung entspricht einer drastischen Selektion von Information. Sie funktioniert problemlos weiter, obwohl wir vielleicht schon einige Male über den Widerspruch nachgedacht haben. Die Kategorisierung ist bequem. Denn sie ermöglicht ein problemloses Handeln (problemloses Essen), weil sie im Alltag keinen Raum für Ambivalenz lässt.
Manch einer reagiert aggressiv, wenn er auf diesen Widerspruch hingewiesen wird. Man wehrt sich dagegen, sich von anderen ein schlechtes Gewissen einreden zu lassen. Es geht mir bei diesem Beispiel nicht darum, eine richtige oder eine falsche Haltung zu vermitteln. Es geht mir um den Umgang mit dem logischen Widerspruch. Das Beispiel verdeutlicht, wie flexibel wir darin sind, durch entsprechende Kategorisierung (implizite Theorien, Ideologien, Betrachtungsweisen, Überzeugungen) homogene Bilder zu produzieren und damit logische Widersprüche wegzudefinieren.
Die innige Beziehung zum eigenen Haustier, das einen Namen trägt, zeigt, dass wir ein genauso homogenes Bild als Grundlage unseres Verhaltens in umgekehrter Richtung produzieren können. Wir kennen den Mechanismus bereits. Es handelt sich um die variable Grenze zwischen »eigene Gruppe/eigene Familie« und »fremde Gruppe/fremde Familie«. Der Hund, der einen Namen trägt, erhält dadurch ein Gesicht und eine Identität. Das ist eine gute Basis, das ganze Spektrum des evolutionär angelegten Kooperationspotenzials abzurufen, das auf eigene Familienmitglieder angewendet wird. Dass damit ein Heer namenloser anderer, gleichartiger Lebewesen ausgeschlossen wird, ist subjektiv kein Widerspruch. Im Gegenteil ist das sogar das Kennzeichen dieses Prinzips. Es gibt einige Individuen im eigenen Kreis und viele außerhalb dieses Kreises.
So dürfte es auch am Beginn der Menschheitsgeschichte gewesen sein. Die mit der Bindung einhergehenden Gefühle (Sympathie, Freundschaft, Verbundenheit, Liebe etc.) sind evolutionär der Leim, der die sozialen Beziehungen zur eigenen Gruppe tragfähig und damit zumindest potenziell dauerhaft werden lässt. In diese Werkzeugkiste hat die Evolution gegriffen, um dem Menschen eine besonders gute Grundlage für die Gruppenkooperation zu geben. Eine wichtige Komponente dieses Leims ist eine in aller Regel stark ausgeprägte Tötungshemmung, die mit der Bindung und ihren typischen emotionalen Korrelaten einhergeht.
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