Nietzsche nennt diese menschliche Bestrebung den Willen zur Macht, der auf dem biologischen Prinzip der Selbstbehauptung aufgebaut ist (vgl. Kap. 9.4). »Selbstbehauptung« klingt nach einer einsamen Sache, bei der sich der Einzelne gegen alle Widrigkeiten und konkurrierende Mitmenschen durchs Leben schlägt. Aber der Wille zur Macht bzw. die Ausübung von Macht kommt oft gerade nicht alleine, sondern durch die Führung oder die Beeinflussung einer Gruppe zum Ausdruck. Sie hat dann die Form einer sozialen Interaktion, denn die Beziehungen zu anderen Menschen müssen keineswegs zwangsläufig Ausdruck unseres Kooperationspotenzials sein. Das Kooperationspotenzial ist immer dadurch gekennzeichnet, eigene Bedürfnisse und Ansprüche zumindest teilweise gegenüber legitimen Bedürfnissen und Ansprüchen anderer Menschen/Lebewesen zu relativieren. Häufig gibt es dafür emotionale Korrelate, indem wir ein positives Gefühl der Bindung zu anderen Menschen oder einer Gruppe empfinden (z. B. Liebe, Freundschaft, Sympathie). Auch die Vernunft kann ein tragfähiger Boden für Kooperation sein. Dies, indem ein Individuum erkennt, dass Kooperation für alle Beteiligten nützlich ist und das eigene Verhalten deshalb kooperativ ausrichtet. Aus dem Gesagten wird deutlich, dass die Instrumentalisierung von Beziehungen, Manipulation oder ein vor allem auf Kontrolle anderer Personen oder Gruppen ausgerichtetes Handeln, keine Verhaltensweisen sind, die unserem Kooperationspotenzial entsprechen. Es handelt sich vielmehr um Formen von Machtausübung im Kontakt mit anderen Menschen. Deren Quelle ist nicht das menschliche Kooperationspotenzial, sondern der entgegengesetzte Pol: die egoistische Selbstbehauptung.
Das Kooperationspotenzial der menschlichen Natur basiert vor allem auf der Bindungsfähigkeit gegenüber anderen Menschen. Die bereits erwähnten emotionalen Korrelate der Bindung sind zum Beispiel als Liebe, Freundschaft, Verbundenheit, Zuneigung oder Sympathie spürbar. Genau genommen ist Bindungsfähigkeit eine universelle menschliche Disposition und keineswegs nur auf andere Menschen begrenzt. Sie kann mit den gleichen emotionalen Korrelaten gegenüber anderen Lebewesen (Tieren oder Pflanzen) oder auch unbelebten Dingen zum Ausdruck kommen. Dass das Ziel der Bindungsfähigkeit variabel ist, zeigt sich an der Beziehung, die manche Menschen zum Beispiel zu ihrem Auto oder zu virtuellen Figuren entwickeln können. Die beginnende Verbreitung von menschlich wirkenden Puppen als Ersatz für menschliche Partner zeigt, dass Bindungsfähigkeit eine menschliche Grunddisposition ist, die sich sehr flexibel auf verschiedene Objekte ausrichten kann. Die Bindungsfähigkeit ist im Übrigen wieder ein Element, das sich in der Natur bereits bei vielen Lebewesen zeigte. Wer je einen anhänglichen Hund hatte, hat einen eigenen Eindruck von der Bindungsfähigkeit von Tieren. Allerdings sind die Flexibilität und das Differenzierungsspektrum menschlicher Bindungsfähigkeit Grundlage einer sozialen Interaktionsfähigkeit, die weit über die Möglichkeiten hinausgeht, die durch die Evolution vor der Entwicklung des Menschen geschaffen wurden.
Ein zweites emotionales Korrelat unseres Kooperationspotenzials ist die Fähigkeit, Gefühle und Perspektiven anderer Lebewesen zu erkennen und nachzufühlen. Diese Fähigkeit wird gemeinhin als Empathie bezeichnet. Wenngleich dieser Begriff einige Unschärfen enthält, trifft das allgemeine Verständnis doch ganz gut den Kern, um den es geht. Es ist uns möglich, eine – auch emotional angereicherte – Vorstellung davon zu entwickeln, wie sich ein anderes Lebewesen fühlt und/oder wie die Welt aus dessen Perspektive aussieht. Es gibt Menschen, denen das besser gelingt als anderen. Aber auch bei den Menschen, die grundsätzlich fähig sind, Empathie zu empfinden, ist es von der jeweiligen Situation abhängig, ob diese Fähigkeit aktiviert wird oder nicht. Wie bei der Bindungsfähigkeit haben Menschen eine hohe Flexibilität dahingehend, in welchen Situationen Empathie aktiviert wird und in welchen nicht (siehe auch Verhältnis Mensch – Tier, Kap. 4.6). Generell ist die Wahrscheinlichkeit, Empathie zu empfinden, dann erhöht, wenn gleichzeitig eine Bindung zur anderen Person/zum anderen Lebewesen besteht.
Es ist das Wesensmerkmal einer Bindung, dass sich die Grenzen der eigenen Identität – zumindest ein wenig oder kurzzeitig – lockern. Wenn man sich einer anderen Person nah fühlt, dann nimmt man sich selbst – auch – als Teil einer Gemeinsamkeit wahr, die in einem Gefühl der Verbundenheit spürbar wird. Man kann dieses Phänomen sehr gut beobachten, wenn Menschen sich einer Gruppe gegenüber verbunden fühlen und dann in dieser Gruppe aufgehen. Das kann sehr schnell passieren. Manchmal reicht es, Zuhörer einer emotionalen Massenveranstaltung zu sein, um sich als Teil einer gefühlten Gruppenidentität wahrzunehmen (vgl. Kap. 15.6). Manchmal reicht es, nach einigen Gläsern Bier mit Bekannten durch die Straßen zu ziehen.
Das Prinzip der egoistischen Selbstbehauptung ist das dem Kooperationspotenzial entgegengesetzte Prinzip. Egoistische Selbstbehauptung ist vor allem durch die starke Fokussierung auf die eigenen Interessen gekennzeichnet. Evolutionär sind Überleben und Fortpflanzung die entscheidenden Interessen. Es liegt im Wesen der puren egoistischen Selbstbehauptung, dass andere Menschen in diesem Modus als potenzielle Konkurrenten, als Feinde oder als nützliche Ressource wahrgenommen werden, die eigene Macht zu festigen oder zu erweitern. Darum sind Beziehungen zu anderen Menschen in diesem Modus eher auf Kontrolle und Beherrschen ausgerichtet.
Nietzsche hat dem biologischen Prinzip der unbedingten Selbstbehauptung zu Recht eine Qualität des immerwährenden Fortschreitens, des Immer-weiter und Immer-besser zugeordnet. Egoistische Selbstbehauptung als Wille zur Macht ist eine Kraft, die keine Ruhe kennt. Sie ist – auch im positiven Sinne – durch ein Element der Unersättlichkeit gekennzeichnet. Die Dynamik des grenzenlosen Fortschreitens kann positiv wirken, wenn sie in einer zivilisierten Ausdrucksform wertvolle Leistungen ermöglicht. Zu denken ist z. B. an die Triebkraft, die Entdeckungen, Erfindungen, Kunstwerke oder ein geniales Handwerksstück hervorzubringen vermag. Aber mit dem Prinzip der egoistischen Selbstbehauptung ist auch großes Potenzial für Ausbeutung, Gewalt und Unterdrückung verbunden. Denn rücksichtsloser Egoismus und Unersättlichkeit sind Kernmerkmale dieses Prinzips. Im Fiktionalen verkörpern die Gegenspieler von James Bond Personen mit einem ungebremsten Willen zur Macht. Stets verfolgen sie das Ziel, zum Herrscher der Welt zu werden. Dafür ist ihnen jedes Mittel recht. Zu Ende gedacht, liegt das in der Logik des – nicht durch die Realität begrenzten – Prinzips egoistischer Selbstbehauptung. Aber es braucht keine Kunstfigur, um diese Prinzip zu veranschaulichen. Geschichte und Gegenwart sind voll von Personen, deren rücksichtsloser Egoismus und deren Unersättlichkeit zu unermesslichem Leid geführt haben.
Man kann also zusammenfassend sagen, dass unsere Wahrnehmungsund Erkenntnisfähigkeiten zwischen zwei zentralen evolutionären Prinzipien der menschlichen Natur positioniert sind. Diese sind das emotional durch Bindungsfähigkeit und die Fähigkeit zum Nachfühlen vermittelte Kooperationspotenzial auf der einen und das – potenziell grenzenlos fortschreitende – Prinzip egoistischer Selbstbehauptung auf der anderen Seite.
4.4Individuelle Zuspitzungen der basalen Evolutionsprinzipien der menschlichen Natur
Generell sind in jedem Menschen beide Prinzipien angelegt. Aber individuell gibt es große Unterschiede. So verkörpert das oben beschriebene Persönlichkeitsprofil der Kaltblütig manipulativen Persönlichkeit (KmP) eine individuell extreme Ausprägung beider Prinzipien: eine sehr geringe Ausprägung des Kooperationspotenzials auf der einen und eine extrem starke Ausprägung der egoistischen Selbstbehauptung auf der anderen Seite. Es ist klar, dass die individuelle Akzentuierung der egoistischen Selbstbehauptung häufig mit negativen Folgen für andere Menschen verbunden ist.
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