An dieser Stelle geht es vor allem darum zu zeigen, dass die Evolution am Anfang der beschriebenen Entwicklung gut beraten war, ihr seit Jahrmillionen verwendetes Erfolgsprinzip nicht gänzlich über Bord zu werfen. Im Gegenteil wurde viel von dem bewährten Prinzip in die neue Konstruktion eingebaut. Wahrnehmungen und Beurteilungen sind kein Selbstzweck. Sie sind die Grundlage für darauf aufbauende Handlungen. Das ist ihre Funktion und deswegen lautet das zentrale Prinzip: besser falsch, dafür aber schnell und/oder eindeutig.
Absoluten Vorrang hat die Verhinderung fataler Konsequenzen (Tod) und damit Sensitivität vor Spezifität. Sensitivität bedeutet in diesem Zusammenhang, dass möglichst alle lebensbedrohlichen Situationen erkannt werden, auch wenn das bedeutet, dass viele Situationen fälschlicherweise als lebensbedrohlich eingeschätzt werden (Verlust von Spezifität). Deswegen sind die Geschwindigkeit der Beurteilung und ihre Eindeutigkeit als Grundlage für eine Handlung entscheidend. Die Weiterentwicklung des Verstandes steht im Dienst dieser klassischen evolutionären Ausrichtung. Keine Rede also davon, dass die Vernunft dazu da ist, die Phänomene der Welt möglichst genau und richtig zu erkennen, sie durchschauen und erklären zu können. Vielmehr gilt das erwähnte zentrale Prinzip, dass sich in der Evolution seit Jahrmillionen bewährt hat: besser falsch, dafür aber schnell und/oder eindeutig. Um schnell und/oder eindeutig zu entscheiden und zu handeln, sind die Reduktion von Komplexität, Generalisierung und Automatisierung sehr nützliche Mechanismen. Wir haben genau diese Elemente in Form psychologischer Urteilsfehler kennengelernt.
So wird uns der Mechanismus der Automatisierung zum Beispiel beim Priming deutlich vor Augen geführt. Beim Priming speist unser intuitives System zuvor unbewusst aufgenommene Informationen – ungefragt – in unsere bewussten Beurteilungsprozesse ein oder lässt sie direkt ohne Umwege ins Verhalten einfließen.
Aus Sicht der Evolution kann man sich einen Reim darauf machen, warum diese Automatisierung einmal sinnvoll gewesen sein könnte. Beim Priming wird eine Information aus der Außenwelt (z. B. in den vorangehend dargestellten Experimenten irgendeine Zahl, das Thema »Geld«, das Thema »Altwerden«) in einen zeitlich darauffolgenden Entscheidungsprozess eingebunden. Ähnlich wie beim Halo-Effekt findet auch hier ein Prozess der Angleichung statt. Unser Wahrnehmungssystem geht davon aus, dass zeitlich eng aufeinanderfolgende Dinge etwas miteinander zu tun haben, statt völlig unabhängig voneinander zu sein. In der Tat dürfte es bei einem eher homogenen Lebensraum, zum Beispiel beim Leben in der Savanne oder in einem Wald, eher so sein, dass Dinge, die in naher zeitlicher Abfolge stattfinden, etwas miteinander zu tun haben bzw. in die gleiche Richtung weisen. Dass nicht alle Details im Bewusstsein registriert und aufgenommen werden, ist eine Frage der Ökonomie. Die meisten Wahrnehmungen werden ständig weggefiltert, um die Möglichkeiten unserer Informationsverarbeitung nicht zu überfordern.
Nun dürfte es aus Sicht der Evolution eine Frage gewesen sein, ob die unterhalb der Bewusstseinsschwelle registrierten Informationen komplett verloren gehen oder auf einem subtilen Weg nicht doch – stereotyp, automatisiert und auf gut Glück – wieder in Beurteilungsprozesse und Verhaltensweisen einfließen sollen. Man kann sich gute Gründe dafür vorstellen, warum die Evolution das so eingerichtet hat – und zwar vor allem dann, wenn die Information in enger zeitlicher Nähe zu einer Beurteilung oder einem Verhalten steht. Auch hier wird es durch diesen Mechanismus oft zu verzerrten oder falschen Beurteilungen und unsinnigen Verhaltensweisen kommen. Aber darauf kommt es gar nicht an. Denn es geht nur darum, in einigen wenigen Fällen fatale Konsequenzen zu verhindern, weil eine entscheidende Information verpasst wurde.
Die Mechanismen der Reduktion von Komplexität und der Generalisierung lassen sich in nahezu allen psychologischen Urteilsfehlern nachweisen. So führt zum Beispiel der Halo-Effekt gleichermaßen zur Generalisierung (einer Beurteilung) und zur Reduzierung von Komplexität (Vermeidung von Heterogenität). Der Rückschaufehler entspricht der Reduzierung von Komplexität.
Alle diese Mechanismen haben auf subjektiver Ebene eine Fülle positiver Wirkungen. Sie vermitteln das Gefühl, die Welt zu verstehen und dadurch Kontrolle über die Umwelt zu haben. Es findet damit eine Immunisierung gegenüber den Gefahren statt, die mit der Weiterentwicklung des Verstandes und des Bewusstsein verbunden sind. Der stark weiterentwickelte Verstand soll nicht zu Verunsicherung, Entscheidungs- und Handlungsunfähigkeit führen. Im Gegenteil ist etwas Selbstüberschätzung sogar vorteilhaft. Deswegen macht es aus Sicht der Evolution Sinn, die starke Ausweitung des Verstandes mit einer Vielzahl von Stoßdämpfern zu versehen, um die damit verbundenen Risiken zu reduzieren. Der Preis sind Mechanismen, die zu verzerrten und falschen Beurteilungen und entsprechenden Handlungen führen – all das aber mit einem subjektiv guten Gefühl. Denken wir daran, von welchem der beiden Urmenschen wir abstammen. Nicht von dem Neugierigen, der die Welt differenziert erforschen und erkennen wollte.
Aus einer aufklärerischen Perspektive sind die Mechanismen, die er uns vererbt hat, problematisch. Man kann auch fragen, ob sie im 21. Jahrhundert noch die Berechtigung haben, die sie vielleicht vor 50 000 Jahren hatten. In jedem Fall ist es aber sinnvoll, sich mit diesen Mechanismen und ihren Auswirkungen auseinanderzusetzen. Denn ohnehin sind sie nicht zu eliminieren. Aber sowohl individuell als auch gesellschaftlich kann es gelingen, negative Folgen zu begrenzen. Aus einer aufklärerischen Haltung heraus ist zu sagen: Das muss gelingen. Aber selbstverständlich ist das keineswegs. Gerade in den westlich orientierten Demokratien, die sich eigentlich den Grundgedanken der Aufklärung verbunden fühlen, zeigen sich in Politik, Medien, Ökonomie und Wissenschaft genau gegenteilige Tendenzen. Die evolutionär mit einer anderen Zielsetzung geschaffenen Fehlerquellen werden genutzt, um die öffentliche Meinung zu beeinflussen, um Produkte zu verkaufen oder um Politik zu machen (vgl. Kap. 15).
4.3Kooperation versus egoistische Abgrenzung
Man kann die evolutionäre Ausgangssituation auch noch unter einem anderen Blickwinkel betrachten. Ein großes Potenzial der Vernunft für die menschliche Entwicklung erschließt sich durch Kooperation. Wie schon die Affen ist auch der Mensch stark auf das soziale Miteinander in einer Gruppe orientiert. Die Vernunft erlaubt es dem Menschen, soziale Funktionsräume zu erschaffen, die das Leistungsvermögen und die Fortentwicklungsmöglichkeiten des Einzelnen bei Weitem übertreffen. Diese Möglichkeiten wurden durch die Entwicklung der menschlichen Vernunft in nie zuvor erreichte Dimensionen gesteigert. Aber genau hierin liegt aus evolutionärer Sicht auch eine Ambivalenz.
Sie beginnt mit der Weiterentwicklung des Bewusstseins. Sich seiner selbst bewusst zu sein und sich als Individuum zu verstehen, ist ein Erleben, das durch Abgrenzung von der Umwelt und anderen Lebewesen konstituiert wird. Ein darauf aufbauender Selbstbehauptungstrieb muss sich in der subjektiven Wahrnehmung zunächst auf sich selbst fokussieren. Es kommt hinzu, dass andere Menschen nicht nur potenzielle Kooperationspartner sind. Gerade weil der Mensch keine anderen natürlichen Feinde hat, ist ein anderer Mensch die einzig relevante Gefahrenquelle durch ein anderes Lebewesen. Ein anderer Mensch positioniert sich somit theoretisch im Spannungsfeld zwischen potenziellem Verbündeten und existenzgefährdendem Feind.
Diese Grundproblematik hat die Natur auch schon vor der Existenz des Menschen bei vielen Spezies gelöst. Wir kennen das Prinzip des Rudels, der Herde, des Schwarms, der Paarbeziehung oder der Gruppe (zum Beispiel bei Affen). Das Prinzip ist immer das gleiche. Es gibt eine soziale Ordnung innerhalb der Gruppe. Das heißt, es gibt Regeln, nach denen sich das Verhalten des Einzelnen ausrichtet. Diese Regeln gewährleisten die Funktionsfähigkeit der gesamten Gruppe. Wie erwähnt lässt sich die menschliche Entwicklung so charakterisieren, dass sie sich weg von stereotypen Instinkthandlungen hin zu mehr Variabilität und mehr Entscheidungsspielraum des Einzelnen bewegt hat. Die meisten von uns kennen das Gefühl, anderen Menschen durch partnerschaftliche, freundschaftliche, familiäre Bande oder auch nur durch Sympathie verbunden zu sein. Das sind Ausdrucksformen unseres Potenzials, uns in Gemeinschaft mit anderen Menschen wohl zu fühlen und Teil eines sozialen Gebildes zu werden, das auf Kooperation ausgerichtet ist. Diese Fähigkeit zu kooperativem Empfinden steht allerdings in einem Spannungsverhältnis zum egozentrisch auf die eigene Selbstbehauptung ausgerichteten Selbstbewusstsein. Das lässt sich an zahlreichen Beispielen demonstrieren. Selbst tiefe Liebesbeziehungen oder starke familiäre Bande verhindern nicht, dass es immer wieder Phasen individuellen Unbehagens oder wüster Konfrontationen gibt. Die Spitze des Eisbergs dieses Phänomens ist der Umstand, dass es sich bei vielen Tötungsdelikten um Beziehungsdelikte handelt.
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