Es gibt auch das genaue Gegenteil. Das sind Menschen, die in übertriebener Weise an das Gute aller anderen Menschen glauben. Dadurch verkennen sie Risiken und neigen auf unkritische Weise zu einer naiven Gutmütigkeit. Besonders deutlich wird eine individuelle Übersteigerung des Kooperationspotenzials der menschlichen Natur auf Kosten der egoistischen Selbstbehauptung bei Personen mit einer Dependenzproblematik. Sie haben die Tendenz, ganz und gar in der sozialen Beziehung aufzugehen und die eigene Identität übertrieben stark zu relativieren. Darum besteht bei ihnen die Gefahr, dass sie anderen Menschen zu viel Macht über die eigene Person geben.
Dazu habe ich an anderer Stelle ausgeführt: »Von anderen Menschen abhängig zu sein und sich ihnen unterzuordnen, kann ein angemessenes Verhalten sein. So ist Abhängigkeit in der kindlichen Entwicklung normal. Neben einer bestimmten Lebensphase kommen Abhängigkeiten und Unterordnung auch kontextbezogen vor. Im Militär, als Patient im Krankenhaus oder als Mitglied eines Arbeitsteams können mehr oder weniger stark ausgeprägte Aspekte von Abhängigkeit und Unterordnung ein adäquates Verhalten sein. Demgegenüber gibt es aber Situationen, in denen die Unterordnung eigener Interessen und Bedürfnisse unter diejenigen einer anderen Person […] ein auffälliges Verhalten sein kann. Die Unangemessenheit eines unterordnenden und abhängigen Verhaltens stellt somit ein wichtiges Kriterium der Dependenzproblematik dar.«
Für die Diagnose einer dependenten Persönlichkeitsstörung gibt es folgende Kriterien:
1.»Bei den meisten Lebensentscheidungen wird an die Hilfe anderer appelliert oder die Entscheidung wird anderen überlassen.
2.Unterordnung eigener Bedürfnisse unter die anderer Personen, zu denen eine Abhängigkeit besteht, und unverhältnismäßige Nachgiebigkeit gegenüber den Wünschen anderer.
3.Mangelnde Bereitschaft zur Äußerung angemessener Ansprüche gegenüber Personen, zu denen eine Abhängigkeit besteht.
4.Unbehagliches Gefühl beim Alleinsein aus übertriebener Angst, nicht für sich allein sorgen zu können.
5.Häufige Angst, von einer Person verlassen zu werden, zu der eine enge Beziehung besteht, und auf sich selbst angewiesen zu sein.
6.Eingeschränkte Fähigkeit, Alltagsentscheidungen zu treffen ohne ein hohes Maß an Ratschlägen und Bestätigungen von anderen.
7.Zusätzlich können sich die Betreffenden selbst hilflos, inkompetent und nicht leistungsfähig fühlen (Weltgesundheitsorganisation 1999).« [13] zitiert nach [11, S. 236–237]
Die Zuspitzungen der beiden zentralen evolutionären Prinzipien der menschlichen Natur in Form individuell problematischer Persönlichkeitsprofile verdeutlichen, welches die positiven Aspekte des jeweils entgegengesetzten Pols sind. Durch eine individuell überdurchschnittliche Ausprägung der egoistischen Selbstbehauptung werden die Umwelt und vor allem andere Menschen geschädigt. Durch eine individuell überdurchschnittliche Ausprägung des Kooperationspotenzials erfährt vor allem die betroffene Person selbst Nachteile.
4.5Abgrenzung schafft Identität
Es wurde darauf hingewiesen, dass die Aktivierung des menschlichen Kooperationspotenzials häufig mit emotionalen Korrelaten einhergeht und dass dieser Prozess sehr rasch ausgelöst werden kann. Viele kennen das aus eigener Erfahrung. Wer schon einmal in einer Gruppe von Fußballfans marschiert ist, im Karneval oder bei Konzerten in emotional gelockerter Stimmung wildfremde Menschen umarmt hat, der bekommt ein Gefühl dafür, wie schnell sich dieser Schalter bei uns umlegen lässt. Ein anderes Beispiel sind politische Massenveranstaltungen – sei es bei den Nationalsozialisten oder aktuell in der Türkei, wenn dem »Messias« gehuldigt wird. Menschen haben in diesen Situationen die Tendenz, in der Masse aufzugehen und die Grenzen der eigenen Individualität zu lockern. Das kann in vielen unterschiedlichen Situationen geschehen und ist von einem Moment auf den anderen sogar mit wildfremden Menschen möglich. Dies und dass das Aufgehen in einer Gruppe von einem starken positiven Gefühl getragen wird, sind deutliche Indizien dafür, dass wir es hier mit einem Programm zu tun haben, das die Evolution in der menschlichen Natur angelegt und tief verankert hat.
Wenn Menschen eine Gruppenidentität annehmen und dabei ihre individuelle Identität relativieren, geschieht das durch eine starke Aktivierung des Kooperationspotenzials. Diese Aktivierung bleibt aber auf die jeweilige Gruppe beschränkt. So leben zum Beispiel politische oder religiöse Gruppen, Hooligans und andere Gangs davon, Gruppenidentitäten dadurch zu festigen, dass sie sich scharf von anderen Gruppen abgrenzen. Abgrenzung ist ein Element, das eng mit dem Identitätserleben am Pol egoistischer Selbstbehauptung verbunden ist: Hier bin ich und behaupte mich gegen den Rest der Welt!
Abgrenzung ist generell ein Mechanismus, um Identitäten zu schaffen oder Identitäten zu schärfen. Es ist nicht der einzige Mechanismus, aus dem sich Identitätserleben speist, aber es ist ein sehr mächtiger, archaischer, allgegenwärtiger und oft auch gefährlicher Mechanismus. Um die zentrale Bedeutung dieses Mechanismus zu verdeutlichen, könnten wir eine Ursprungsgeschichte erzählen, in der die Schaffung von Identität durch Abgrenzung zum zentralen Prinzip erklärt wird:
Nur durch Abgrenzung wird Identität geschaffen. Bereits der Beginn des Universums verdeutlicht dieses Prinzip. Denn am Anfang war das Nichts. Im Nichts gibt es keine Materie, kein Lebewesen, keinen Planeten, kein Atom, keine Zeit, keinen Raum … nichts, ganz und gar nichts. Vergegenwärtigt man sich diesen Zustand, dann ist die erste Materie, die das Nichts zerstört, nichts anderes als eine Abgrenzung vom Nichts. Die erste Materie ist eine Nicht-Nichts-Insel in einem Meer des Nichts. Die gesamte Weiterentwicklung kann man nun als eine Fortsetzung des Abgrenzungsprinzips verstehen. So ist das erste Atom eine Abgrenzung von diffuser Materie: eine Insel atomarer Materie in einer diffusen Materiesuppe. Der erste Planet ist eine Abgrenzung von atomaren Gaswolken (eine erste Planeteninsel im unendlichen Gasnebel). Das erste Sonnensystem ist eine Abgrenzung von einzelgängerischen Planeten (eine erste Sonnensysteminsel im Chaos umherfliegender Planeten) usw.
Machen wir einen großen Sprung hin zur Entstehung des Lebens. Wieder begegnet uns Abgrenzung als zentrales Prinzip. Der Beginn des Lebens besteht darin, dass sich DNA-Bruchstücke von einer molekularen Ursuppe abgrenzen. Nach diesem Startschuss geht ein nicht enden wollender Kampf los: jeder gegen jeden. Bakterien, Viren, Fische, Schlangen, Ameisen, Löwen, Tiger, Affen … Nein, es geht nicht um Kooperation, nicht um friedliche Koexistenz. Die Devise ist vielmehr: Abgrenzung, fressen und gefressen werden.
Auch in unserer eigenen Entwicklung ist dieses Prinzip feststellbar. Der Säugling erlebt sich noch zunächst als von seiner Umgebung unabgegrenzt. Seine Identitätsentwicklung besteht darin, dass er die Fähigkeit entwickelt, zwischen Ich und Nicht-Ich zu unterscheiden.
Generell wissen wir aus der Wahrnehmungstheorie, dass Identität erst durch Verschiedenheit und durch Abgrenzung erkennbar wird. Eine weiße Schrift ist in einer weißen Umgebung nicht wahrnehmbar. Umso klarer sehen wir die weiße Schrift aber vor einem schwarzen Hintergrund. Abgrenzung begegnet uns überall und schafft permanent und flexibel auf unterschiedlichsten Ebenen Identität. Das persönliche Identitätserleben besteht darin, sich selbst als gegenüber allen anderen Menschen anders und abgegrenzt zu erleben (ich versus alle anderen Menschen).
Dekliniert man dieses Prinzip weiter, dann entsteht eine Familienidentität dadurch, dass sich Familienmitglieder als gegenüber Nicht-Familienmitgliedern abgegrenzt erleben (Familie versus Nicht-Familienmitglieder). Manchmal erleben sich die Bewohner eines Stadtviertels (Quartiers) als eine Gemeinschaft. Hier grenzen sich die Bewohner des eigenen Viertels gegenüber den Bewohnern anderer Viertel ab (Quartierbewohner versus Nicht-Quartierbewohner). Ein gängiges Phänomen ist es, dass sich vor allem Nachbarstädte gegeneinander abgrenzen. Diese Abgrenzung besteht häufig in einer zugespitzten Rivalität und wird auf verschiedenen Ebenen geradezu zelebriert (eigene Stadt versus fremde Stadt).
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