Vergegenwärtigen wir uns zunächst den Ausgangspunkt unserer Entwicklung. Ein Großteil der im Tierreich vorgenommenen Bewertungen und darauf gründenden Handlungen hat mit Instinktverhalten zu tun. Instinktverhalten bedeutet: Durch einen Schlüsselreiz wird ein weitgehend automatisiertes Verhalten ausgelöst. Schildkröten, die aus dem Ei schlüpfen, laufen umgehend in Richtung Meer. Katzen jagen einer Maus hinterher, wenn sie eine solche sehen. Einem Hund kann man bestimmte Verhaltensweisen durch Belohnung und Bestrafung antrainieren. Auch das vorwiegend durch Instinkte geprägte Verhalten von Tieren lässt eine gewisse Variabilität zu. So spielen zum Beispiel aktuelle Bedürfnisse, Hunger, Durst, die Nähe zu Artverwandten, bestimmte Stimmungen oder viele andere Aspekte eine Rolle dafür, wie ein konkretes Verhalten aussieht. Auch ist nicht jedes Tier gleich, sondern sein Verhalten unterscheidet sich im Vergleich zu Artgenossen aufgrund individueller Charaktereigenschaften. Jeder, der schon einmal mit Hunden oder Pferden zu tun hatte, weiß um diese Individualität eines spezifischen Charakters. Generell lässt sich aber sagen, dass ein wesentlicher Teil des Verhaltens von Tieren den stereotypen Mustern des Instinktverhaltens folgt.
Wenn wir uns im Wald einem Reh nähern, dann wird es in aller Regel davonlaufen. Das Verhalten entspricht einem Instinkt und wird stereotyp ausgelöst. Es müsste ein großer Aufwand betrieben werden, um dieses Instinktverhalten bei bestimmten Individuen – zum Beispiel durch gezieltes Verhaltenstraining – zu überlernen.
Die Ausgangslage ist: Mensch in Sicht, in Hör- oder Riechweite, das heißt: weglaufen. Das Reh prüft nicht, mit welcher Motivation sich der Mensch nähert oder ob er vielleicht sogar etwas Nützliches bewirken kann. Eine differenzierte Erfassung der Situation des sich nähernden Menschen entfällt. Vielleicht verpasst das Reh mit diesem stereotypen Verhalten manchmal auch eine Chance. Vielleicht war es ein Mensch, der Rehe mag, der wiedergekommen wäre und Futter gebracht hätte.
Dieses konstruierte Beispiel zeigt ein wichtiges Grundprinzip instinktorientierten, stereotypen Verhaltens. Ein Verhalten wird schnell – ohne zu überlegen – und mit einer klaren Richtung (weglaufen) ausgelöst. Das ist der Vorteil. Die Nachteile liegen in der Generalisierung und dem Automatismus. Könnten Situationen differenzierter bewertet werden, dann könnte dies Grundlage für eine Differenzierung im Handeln sein. Manchmal wäre vielleicht genau das gegenteilige Verhalten nützlich, weil mit der Begegnung eine Chance verbunden ist. Oft könnte aber auch einfach nur Energie gespart werden, weil die Situation eigentlich völlig ungefährlich ist.
Es ist klar, warum sich die Evolution hier nicht auf Experimente einlässt, sondern stereotype und automatisierte Beurteilungen und Handlungen bevorzugt. Der Preis für eine Fehlbeurteilung wäre zu hoch. Zudem können stereotype und automatisierte Handlungen gewisse Effizienzvorteile haben. Es wird keine Energie in aufwendige Analysen investiert, für die das Gehirn hart arbeiten müsste: ein entscheidender Punkt, wenn zum Beispiel Wasser oder Nahrung begrenzt sind. Die Begrenztheit von Ressourcen ist ohnehin ein wichtiger Grund für Generalisierung und Automatisierung. Dort, wo Nahrung knapp ist, ist es sinnvoll, sofort loszulaufen und jede Beute zu nehmen, die man kriegen kann – oder ohne Verzögerung wegzulaufen, wenn man selbst eine Beute sein könnte. So ist es auch bei unserem Urzeitmenschen, der in paranoider Stereotypie hinter jedem Rascheln einen Löwen vermutet. Er liegt sehr oft falsch. Aber er hat aus evolutionärer Sicht deutliche Überlebensvorteile.
Es gibt zahlreiche Beispiele dafür, dass Entscheidungs- und Verhaltensstereotypien aus evolutionärer Sicht ein unglaubliches Erfolgsmodell sind. Das gilt in besonderer Weise, wenn sie in Zusammenhang mit körperlichen Anpassungen stehen, die sich durch die Evolution entwickelt haben. Häufig sind sie von großer Effizienz und stellen eine perfekte Adaption an die vorherrschenden Lebensbedingungen dar. Die in der trockenen Namibwüste lebenden Schwimmfußgeckos laufen Sanddünen hinauf, damit dort an ihrem Körper Tautropfen des Küstennebels anhaften, die sie dann zur Wasseraufnahme z. B. von den Augen ablecken. Unzählige beeindruckende Beispiele perfekter Anpassung könnten hier aufgezählt werden.
Der Nachteil stereotyper Muster zeigt sich aber nicht zuletzt im Aussterben vieler Tierarten, die sich nicht schnell genug an veränderte Lebensbedingungen anpassen konnten. Zugegeben fehlt einem angesichts komplett zerstörter Lebensräume bisweilen die Fantasie, wie eine Anpassung heute überhaupt noch aussehen könnte. Aber diese Seite der Evolution macht klar, dass manchmal eine Differenzierung der Entscheidung und des Verhaltens sehr vorteilhaft sein könnte. Schafe sind für Wölfe eine attraktive Beute. Ihr Instinkt leitet die Wölfe, wenn sie ein Schaf aus einer Schafherde reißen. Genau dieses Verhalten bedroht aber das Überleben des Wolfes selber, wenn er wegen dieses – für ihn völlig natürlichen – Verhaltens gejagt wird.
Die Evolution hat dem Umstand durchaus Rechnung getragen, dass rasche Variation und Differenzierung der Entscheidungs- und Verhaltensmuster Vorteile haben kann. So nimmt der stereotype Teil von Instinkthandlungen bei höher entwickelten Tierarten (z. B. Affen) tendenziell gegenüber einem Zuwachs an Variationsmöglichkeiten und Individualität ab. Der menschliche Verstand stellt in dieser Entwicklung zweifellos einen Quantensprung dar. Falsch ist aber die Annahme, dass der Mensch das einzige Lebewesen sei, das denken könne und ein Bewusstsein seiner selbst habe. Diese lange Zeit vorherrschende Einschätzung ist Ausdruck einer Selbstüberschätzung des Homo sapiens, die in den letzten Jahren immer weiter entkräftet wurde. Denn viele Tiere sind zu erstaunlichen Intelligenzleistungen in der Lage. Das Spektrum reicht von Primaten bis hin zu Rabenvögeln und Papageien. Sie lösen eigenständig Probleme, können planen, können soziale Beziehungen einschätzen und erinnern, haben ein Bewusstsein, verwenden Werkzeuge, die sie teilweise sogar über Generationen weiterentwickeln (z. B. neukaledonische Krähe), und haben viele andere Fähigkeiten, die man lange nur dem Menschen zuordnete. Intelligenz ist also keineswegs eine Erfindung der Evolution, die erst mit der Menschheitsentwicklung begann. Die Evolution hat bei sehr vielen Lebensformen ein Mischungsverhältnis zwischen stereotypen Instinkthandlungen und eigenständigem, flexiblem Denken entwickelt. Beim Menschen hat die Evolution zwar den Verstand stark ausgebaut. Aber auch bei ihm bleibt es eine Mischung aus beiden Elementen.
4.2Investition in Vernunft: Ein evolutionäres Projekt mit Chancen und Risiken
Dass die Evolution in einen leistungsfähigeren Verstand und in ein ausgeprägtes Bewusstsein investiert hat, war ein gewagtes Unterfangen mit Risiken. Denn einerseits steigt der Energiebedarf und andererseits erhöhen sich die Fehlermöglichkeiten. Durch die Möglichkeit zur Variation und zur Abweichung von stereotypen Beurteilungen und Handlungsmustern wurden zwar neue Entwicklungsmöglichkeiten geschaffen. Gleichzeitig entstanden aber auch viele neue Möglichkeiten für fatale Fehlbeurteilungen und falsche Handlungen. Das haben wir bei unseren beiden Urmenschen gesehen. Es kommt hinzu, dass ein ausgeprägtes Bewusstsein und ein differenzierteres Gefühlsspektrum Quelle vieler weiterer evolutionärer Nachteile sein können. Was, wenn der Mensch mit seinem Bewusstsein die Gefahr des Todes stärker empfindet und deswegen zu übertriebener Passivität neigt? Was, wenn der ausgestaltete Verstand zu mehr offenen Fragen, Verunsicherung, Einsamkeit und Orientierungslosigkeit führt?
Jedenfalls gilt, dass die Investitionen in Vernunft und eine stärkere Variabilität von Urteilen und Handlungen nicht nur mit Chancen – z. B. für Anpassungsfähigkeit, Kooperation, Entwicklung von Werkzeugen etc. – verbunden sind. Sie gehen auch mit Risiken evolutionärer Nachteile einher. Die sind deswegen kritisch, weil der Mensch besonders darauf angewiesen ist, seinen durch das Gehirn gesteigerten Energiebedarf dauerhaft decken zu können. Nun, wir wissen, dass die Geschichte vorderhand gut ausgegangen ist. Bislang ist der Mensch evolutionär sehr erfolgreich. Er hat sich eine Position erarbeitet, durch die er keine natürlichen Feinde in Gestalt anderer Reproduktions- oder Nahrungskonkurrenten mehr hat. Oder sagen wir es anders. Er hat die Mittel, all diese natürlichen Konkurrenten zu vernichten. Es ist übrigens bei dieser Ausgangslage auch klar, dass der einzige existenzgefährdende Konkurrent des Menschen ein anderer Mensch ist. Wir werden auf diesen Punkt später zurückkommen.
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