Es gibt Strategien, mit dieser Grundproblematik umzugehen, die im Kern bei jeder Kommunikation besteht. Sie sind aber alles andere als ein Selbstläufer. Generell darf man zufrieden sein, wenn es zu Annäherungen im Sinne von Ähnlichkeiten anstelle von den Sinn verzerrenden Diskrepanzen kommt.
Bei den von uns untersuchten Sozialarbeitern und Juristen handelte es sich um besonders qualifizierte Fachpersonen, die darüber hinaus sehr viel Wissen rund um das Thema »Therapie von Straftätern« hatten. Dennoch kam es zu diesen Problemen. Das zeigt, wie groß der Spielraum zu subjektiv geprägten eigenen Wirklichkeiten ist, wenn man verschiedenen Personen genau dieselbe Information vorlegt.
Generell würde man staunen, wie viele Abweichungen sich ergeben, wenn man wie in dem konkreten Beispiel überprüfen würde, was genau bei den Rezipienten einer Information konkret ankommt. Wenn man also die Personen, die eine Dokumentation anschauen, einem Vortrag zuhören oder an einer Besprechung teilnehmen, nachher standardisiert und konkret nach den Inhalten befragt, würden eklatante Abweichungen und viele eigene Wirklichkeitskonstruktionen zum Vorschein kommen. Dies, obwohl man in der Regel nach einer Besprechung von einem gemeinsamen Verständnis aller Teilnehmenden ausgeht. Das Ausmaß dessen, was in solchen Informationen vermittelt und einem einheitlichen Verständnis zugeführt werden kann, ist aber ausgesprochen begrenzt.
Deswegen ist es überaus berechtigt, auf die Macht der subjektiven Wirklichkeitskonstruktionen hinzuweisen. Sie erzeugen zwischen unterschiedlichen Personen bestenfalls Ähnlichkeiten, nie aber das wirklich gleiche Verständnis. Ich bin aber optimistischer als die Radikalen Konstruktivisten. Denn in einer Kommunikation kann die Ähnlichkeit so weit kultiviert werden, dass sie in vielen praktischen Fragen ein ausreichend gemeinsames Verständnis hervorbringt. Würde ich daran nicht glauben, würde ich dieses Buch nicht schreiben, und dann hätten vermutlich auch die Radikalen Konstruktivisten keine Bücher geschrieben. Aber man soll keinesfalls die Hindernisse unterschätzen, die einem gemeinsamen Verständnis durch subjektive Wirklichkeitskonstruktionen entgegenstehen. Wenn ein gemeinsames Verständnis eines Inhalts wichtig ist, sollte man kontrollieren bzw. nachfragen und nicht dem oberflächlichen Gefühl trauen, dass alle das Gleiche verstanden haben. Ähnlich wie bei den typischen psychologischen Verzerrungen bin ich aber auch hier davon überzeugt, dass die Kenntnis dieses Phänomens hilft, den tatsächlichen Grad an gemeinsamem Verständnis verbessern zu können.
3Individuelle Persönlichkeitsprofile
Wir haben uns mit den erkenntnistheoretischen Grenzen des Verstandes beschäftigt. Auf einer zweiten Ebene wurden psychologische Mechanismen dargestellt, die Einfluss auf Wahrnehmung, Erkenntnisfähigkeit und Urteilsbildung haben und oft zu Fehlern und Verzerrungen führen. Nun wenden wir uns der dritten Ebene zu. Es handelt sich um Persönlichkeitsprofile, die bei bestimmten Menschen vorkommen können und dann auf individueller Ebene zusätzlich zu Verzerrungen in der Urteilsbildung und problematischen Verhaltensweisen disponieren. Wir beschäftigen uns also mit Eigenschaften, die jene Menschen von anderen Menschen unterscheiden.
Problematische Persönlichkeitsprofile können in Form eines oder einer Kombination mehrerer prägnanter Persönlichkeitsmerkmale vorkommen. Prägnante Persönlichkeitsmerkmale sind Eigenschaften eines Menschen, die als für diese Person charakteristisch gelten. Solche prägnanten Persönlichkeitsmerkmale gibt es bei einem Menschen nicht in beliebiger Zahl. Meist liegen eine bis fünf solcher charakteristischen Eigenschaften vor, die das individuelle Persönlichkeitsprofil einer Person in besonderer Weise bestimmen.
An anderer Stelle habe ich zu prägnanten Persönlichkeitsmerkmalen Folgendes ausgeführt:
»Es handelt sich also um Merkmale, die einerseits deutlich ausgeprägt sind. Andererseits sind es die Merkmale, die in der Persönlichkeit eines Menschen besonders hervorstechen. Um Eigenschaften als charakteristisch und für eine bestimmte Person als besonders aussagekräftig anzusehen, sind also zwei theoretische Vergleiche maßgebend. Es ist der Vergleich mit der durchschnittlichen Normalbevölkerung und der Vergleich mit eigenen Eigenschaften. Man wird also Eigenschaften dann als besonders prägend für eine Person wahrnehmen, wenn diese Eigenschaften (1) gegenüber anderen Eigenschaften der Person und (2) im Vergleich mit anderen Menschen besonders hervortreten.
Prägnante Persönlichkeitsmerkmale sind durch drei weitere wichtige Kriterien gekennzeichnet:
− Prägnante Persönlichkeitsmerkmale zeigen sich im Verhalten!
Es kann sein, dass das Verhalten nicht direkt beobachtbar ist, weil eine Person sich mit dem entsprechenden Verhalten nicht in der Öffentlichkeit oder gegenüber Familienmitgliedern zeigt. Aber es ist das Wesen prägnanter Persönlichkeitsmerkmale, dass sie ins Verhalten ›durchdrücken‹. Würden sie sich nicht im Verhalten in prominenter Art und Weise zeigen, dann wären es keine prägnanten Persönlichkeitsmerkmale.
− Prägnante Persönlichkeitsmerkmale zeigen sich im Verhalten eher früher als später!
Prägnante Persönlichkeitsmerkmale zeigen sich aufgrund ihrer Prägnanz tendenziell früh im Verhalten, häufig bereits – zumindest ansatzweise – in der Kindheit und im Jugendalter.
− Prägnante Persönlichkeitsmerkmale haben eine hohe Konstanz und zeitliche Stabilität!
Menschen erfinden sich nicht jeden Tag aufs Neue. Wir alle leben in Kontinuitäten. Dabei sind gerade die prägnanten Persönlichkeitsmerkmale tendenziell schwer oder gar nicht veränderbar. Sie haben eine jahrzehntelange, häufig gar eine lebenslange Konstanz.
Das zuletzt genannte Phänomen kann jeder in seinem eigenen Umfeld bei Familienmitgliedern, Arbeitskollegen oder anlässlich von zehn-, zwanzig- oder dreißigjährigen Klassentreffen beobachten. Die prägnanten Persönlichkeitsmerkmale haben eine bemerkenswerte Konstanz. Das heißt nicht automatisch, dass sich die Lebenswirklichkeit einer Person nicht verändern kann. Sie kann sich sehr wohl verändern. Genau darauf zielen wir ja mit Therapien ab. Aber meist geht es nicht darum, dass sich die prägnanten Persönlichkeitsmerkmale komplett verändern. Vielmehr ist es bei diesen Veränderungen oft so, dass ein anderer Umgang mit diesen Merkmalen erfolgt, dass alternative Handlungsstrategien entwickelt oder andere Akzente gesetzt werden. Wir kennen aus der Lebenszeitforschung die Beispiele, bei denen Menschen mit ähnlichen Persönlichkeitsprofilen völlig unterschiedliche Biografien leben. Der überkritische, chronisch misstrauische und überall Verschwörungen witternde Charakter kann ein hervorragender investigativer Journalist werden. Er kann aber auch als Mittdreißiger in die Karriere eines Querulanten einbiegen und die Energie aus seinen prägnanten Persönlichkeitsmerkmalen in dieser Form zum Ausdruck bringen. Auch eine Person mit pädosexueller Präferenz ist nach einer Therapie noch pädosexuell. Wenn es ihr aber gelingt, sexuelle Übergriffe zu verhindern, dann hat diese Person ein komplett anderes Leben. Aber ein anderer Mensch ist die Person deswegen nicht geworden.« [11, S. 5–6]
Nachfolgend wird eine Auswahl von vier problematischen Persönlichkeitseigenschaften beispielhaft vorgestellt. Dies geschieht in Form einer jeweils kurzen Zusammenfassung wesentlicher Aspekte der entsprechenden Eigenschaft. Damit soll dem Leser ein Eindruck davon vermittelt werden, was konkret unter problematischen Persönlichkeitseigenschaften verstanden werden kann.
Die Auswahl der Eigenschaften erfolgt in Anlehnung an das Forensische Operationalisierte Therapie-Risiko-Evaluations-System (FOTRES). Es handelt sich um ein diagnostisches System, das ursprünglich entwickelt wurde, um Persönlichkeitsprofile von Straftätern abzubilden. Zu diesem Zweck sind in FOTRES mehr als hundert sogenannte Risikoeigenschaften verzeichnet. Viele dieser Eigenschaften können auch unabhängig von Straftaten vorkommen. Alle disponieren aber zu problematischen Wahrnehmungen, Einstellungen und insbesondere Verhaltensweisen.
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